Ergänzungslieferung 79
Udo Tworuschka feierte am 12. Februar 2024 seinen 75. Geburtstag. Aus diesem Anlass widmen wir unserem HdR-Mitgründungsherausgeber die vorliegende Ergänzungslieferung.
Wie relevant sind die Ergebnisse der religionswissenschaftlichen Forschung für die Gesellschaft? Wie kommt die Religionswissenschaft zu ihren Ergebnissen und was geschieht mit den Ergebnissen der Religionswissenschaft? Diese Frage treibt das Fach ebenso um wie andere Wissenschaftsgebiete, allerdings mit einer Fachgeschichte in der sich das junge Fach Religionswissenschaft zunächst weitgehend als Religionsphänomenologie etabliert hat, der zunehmend eine faktische Innenperspektive oder theoretische Supertheologie vorgeworfen wurde. Dies führte dazu, dass sich das Fach zunehmend klar als Kulturwissenschaft positionierte und in der Selbstreflexion die Neutralität und Distanz zum Feld besonders unterstrich. Gerade aber die unterschiedlichen „Turns“ in den Kulturwissenschaften, die etwas zeitversetzt auch die Religionswissenschaft erreichten, führen vielfach wieder ins Feld hinein.
Nachdem zunächst vor allem Religionsformen jenseits der in Europa gängigen im Blick waren, kamen mit der globalen Etablierung des Faches sowohl die Verhältnisse und Prämissen religionsvergleichender Forschung selbst in den Blick, als auch gegenwärtige Formen neureligiöser Bewegungen und Spiritualitäten sowie Formen und Themen des interreligiösen Dialogs. In den 1990er-Jahren beginnt ein starkes Interesse am Buddhismus und dem Hinduismus sowie Formen des Yoga. Gerade letztere führten zusammen mit Fragen zum Islam, islamistischen Strömungen und religiös motiviertem Terrorismus nach 9/11 zu einem Interesse an Gegenwartsreligiosität und Formen der Spiritualität. Im Kontext von globalen Migrationsbewegungen gewann auch der Islam in Europa als religionswissenschaftlicher Gegenstand Format. Es ergaben sich verstärkt Anfragen der Gesellschaft an die Religionswissenschaft. Die Relevanz religionswissenschaftlicher Forschung als notwendiges Wissen für das Verständnis der Prozesse und Funktionen der Gesamtgesellschaft, einschließlich der in ihr wirkenden Religionen ist offensichtlich und suchte nach Antworten. Neue Ansätze in diese Richtung waren zunächst die „Angewandte“ (Wolfgang Gantke) beziehungsweise „Praktische Religionswissenschaft“ (Udo Tworuschka). Dabei zeigt sich bereits in dem vorangestellten Adjektiv die immer noch weitergeführte Debatte, welche Implikationen und Konsequenzen eine Religionswissenschaft in Anwendung und Praxis für das Fach, die Methoden und die Außenwirkung haben.1
Während Tworuschka2 in der praktischen Religionswissenschaft religiöse Positionen bewerten, transkulturelle Werte bestimmen und „Negativformen von Religion“ kritisieren möchte, sehen sich Reiss und Wurzrainer vor der Aufgabe, die verschiedenen Perspektiven von Religion in den Diskurs ohne Bewertung einzubringen (Siehe I – 5.7.10 Reiss & Wurzrainer in diesem Band). Gemeinsam ist das Anliegen, die Relevanz eines religionsdiversen und kulturwissenschaftlich informierten Wissens von und über Religion aktiv anzubieten und in den Diskurs einzubringen.
Das Anliegen einer Religionswissenschaft in Anwendung und Praxis ist also ein zweifaches: Zum einen geht es um die Verbindung zum Leben, d. h. gegenwärtige Religionen in Form als erforschtes Feld und als die Religionswissenschaft anfragende Größe. Zum anderen geht es um die Wirkung religionswissenschaftlicher Forschung auf Religion und spirituelle Gruppen. Dabei ist klar, dass jede – auch nicht anwendungsbezogene Religionswissenschaft – religionsproduktiv wirkt, also den Gegenstand verändert, den sie erforscht. Anwendungsorientierte praktische Religionswissenschaft hat diese religionsproduktive Seite als Teil ihrer eigenen Selbstreflexion aber direkt im Blick.3
Udo Tworuschka ist es mit zu verdanken, dass die Religionswissenschaft in Anwendung und in Praxis sich kontinuierlich weiterentwickelt hat. Er selbst hat in vielen Veröffentlichungen aber auch neuen Formaten wie Spielen zu Religion (Religiopolis) dieses Feld nicht nur kontinuierlich bestellt, sondern auch vieles erprobt und bearbeitet. Die vorliegende Ergänzungslieferung des HdR ist daher auch ein kleines Geschenk zu seinem 75. Geburtstag.
Der einleitende Beitrag von Reinhard Kirste (I – 5.7.1) Zum 75. Geburtstag von Udo Tworuschka, versteht sich als Laudatio und hebt besonders den Aspekt hervor, dass praktische Religionswissenschaft als Wahrnehmungswissenschaft verstanden sein soll, die so zur Vernetzung der Disziplinen Religionspädagogik und Religionswissenschaft so wie Theologie beträgt. Als auch didaktischer Motor lege sie somit einen Grundstein für eine aktives tolerantes Miteinander der Religionen.
Wolfgang Gantke hebt im Beitrag (I – 5.7.2) Die Bedeutung der praktischen Religionswissenschaft für die religionswissenschaftliche Methodendiskussion besonders den Faktor der Sinnstiftung großer Religionen hervor, den die praktische Religionswissenschaft erhebe und somit für die Gesellschaft und damit der Anwendung der Menschheit verfügbar mache. Dabei hebt Gantke den interdisziplinären Charakter von Tworuschkas Ansatz hervor und sieht diesen in Richtung einer integralen Religionswissenschaft streben, die alle religionsbezogenen Wissenschaften umfasse.
In einem autobiografischen Zugang beschreibt Monika Tworuschka in (I – 5.7.3) Praktisch mit Religionen umgehen ihren eigenen Weg zu einer praktischen Religionswissenschaft, die in vielen Kooperationen mit ihrem Mann Udo Tworuschka und vielen eigenen Projekten nach Vermittlungswegen von Religionswissen besonders für Kinder und Jugendliche sucht. Ausgehend von der eigenen Jugendfaszination für Karl May und Kriminalromane entsteht ein neues Genre: Abenteuerromane mit Religionsbezug für Jugendliche. Diese und andere Formen wie Religions-Spiele und Abenteuerbücher mit Religionsbezug zeigen, dass neben dem konfessionellen Zugang der Religionspädagogik gerade auch der praktisch religionswissenschaftliche notwendig ist und zudem ein weit über den Religionskundeunterricht hinausgehendes Feld mit notwendigem pädagogischen Material versorgen kann.
Einen spannenden und auch persönlichen Eindruck in die Genese der praktischen Religionswissenschaft gibt der autobiografische Zugang von Udo Tworuschka (I – 5.7.4), 50 Jahre Religionsforschung und -vermittlung. Besonders prägend war die Wende von der Theologie zur Religionswissenschaft ausgehend vom persönlichen Interesse an Sinnfragen in einem weiten Horizont. Die Relevanz von Religion hat auch nach der inneren Wende bei Tworuschka bleibend eine Rolle gespielt und führte in eine aktive Reflexion der Frage nach dem Sinnzusammenhang im Feld Religion an sich. Das Ergebnis für die Religionswissenschaft ist eine immer wieder neu kehrende Fragestellung nach der Bedeutung von Religion im Leben, dem Sitz im Leben derer, die in den religionswissenschaftlichen Blick geraten.
Ein reflektierter, ebenfalls in biografischer Perspektive angelegter Beitrag ist der von Richard Friedli: (I – 5.7.5) Engagierte Religionswissenschaft. Der Ansatz wird von ihm in zwei Kontexten dargestellt: theologisch-kirchlich (1960–1994) und soziologisch-politisch (1994–2020). Abschließend werden im Beitrag zwei psychologische Voraussetzungen für praktisch-angewandte Religionswissenschaft herausgestellt, die Risiko-Bereitschaft und das Flair für gesellschaftliche Transitionen. Besonders gelungen ist die Darstellung exemplarischer Projekte in ihrem Gelingen aber auch Scheitern. Diese Art der Längsschnittreflexion bietet für die Metareflexion einer Religionswissenschaft in Anwendung und Praxis eine wertvolle Basis.
Martin Rötting beschreibt Möglichkeiten und Problemstellungen für (I – 5.7.6) Religionswissenschaft angewandt in interreligiösen Kontexten. Rötting skizziert zunächst die Aufgabe der Religionswissenschaft als Reflexionsort interreligiöser Kontexte. Für beide Ausübungsformen, der Reflexion und der Anwendung beschreibt er dann die Herausforderungen der Insider-/Outsider-Problematik und die sich gerade auch daraus ergebenden Chancen zukunftsfähiger Wissensproduktion. Die so dargelegten Momente einer angewandten Religionswissenschaft werden exemplarisch an den Möglichkeiten der Arbeit im interreligiösen Kontext aufgezeigt: Religionswissenschaftliche Arbeit im Kontext der NGO Occurso e.V. und dem Haus der Kulturen und Religionen in München als Projekt das sich als Forschungsfeld eignet, aber auch religionswissenschaftliche Daten verarbeiten kann. Mit Blick auf den Bereich der Wissensproduktion wird das College of Interreligious Studies in Verbindung zur Lehre der Religionswissenschaft dargestellt.
Michael A. Schmiedel stellt seine Überlegungen unter den Titel (I – 5.7.7) Praktische Religionswissenschaft. Dabei geht er retrospektiv vor, indem er seine zwei Qualifikationsforschungen über Buddhismus in Bonn und über die Passung zwischen individuellen Konstrukten und Angeboten der Religionsgemeinschaften Merkmale der Praktischen Religionswissenschaft aufweisen. Ein zweites Feld stellt die Arbeit in der Interkulturellen Bildungsarbeit und deren praktisch-religionswissenschaftlichen Implikationen dar. Die dargelegten Überlegungen münden in einem Ja zur Möglichkeit einer Praktischen Religionswissenschaft als zugleich interdisziplinärer und auch die Grenzen zu nichtwissenschaftlichen Aufgaben in der Gesellschaft überschreitenden Disziplin.
Ein konkretes Projekt anwendungsorientierter Religionsforschung stellt Alina Knoflach in ihrem Beitrag (I – 5.7.8) Zwischen Relevanz und Kritik anwendungsorientierter Religionswissenschaft zur Erfassung der inneren Strukturen (impliziter) Religiosität im Inklusitätsprozess fluchtmigrierter Menschen vor. Im Rahmen des Projekts Hindiba (arab. Löwenzahn), welches nach Knoflach ein Paradebeispiel für implizite Religiosität darstellt, werden die inneren Strukturen individueller Bedeutungsebenen von Religiosität untersucht. Die Einflüsse auf die Inklusität von fluchtmigrierenden Menschen festgestellt werden. Inklusität ist ein von der Autorin definierter Begriff, welcher sich auf das subjektive Erfahren von Sicherheit, Strukturiertheit, Anerkennung, Zu(sammen)gehörigkeit und Sinnhaftigkeit, auf Verstehensprozesse für eine respektvollen Entwicklung sowie auf das individuell erlebte Gefühl angekommen zu sein, bezieht. Da die Forschungsarbeit hohem Maß an das Praxisfeld gebunden ist, sind Theorie und die Praxis zu verbinden, dabei stehen sie in ständiger konfliktbehafteter Ambivalenz zueinander. Die dadurch entstehenden Spannungsverhältnisse werden kritisch beleuchtet und gleichzeitig deren Relevanz im Kontext der zugrundliegenden Forschung diskutiert.
Maike Maria Domsel fragt in (I – 5.7.9 ) Interreligiöse Kompetenzen: Komparative Theologie als Schlüssel für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht? Domsel sieht den Religionsunterricht vor der Herausforderung der multikulturellen und multireligiösen Integration, dies sei ausgelöst durch gesellschaftspolitische Debatten über seine Existenz und Ausgestaltung. Säkulare Tendenzen und die Vielgestalt spirituell-religiöser Strömungen tragen, so die Verfasserin, zu dieser Entwicklung bei. Die Entwicklung spirituell-religiöser Pluralitätskompetenz gewinnt so an Bedeutung, während die Rolle der Theologie in der Religionspädagogik zunehmend hinterfragt wird. Domsel untersucht dabei die kritischen Möglichkeiten, Konfessionalität und Pluralitätskompetenz im Religionsunterricht harmonisch zu verbinden, wobei die Komparative Theologie als Schlüssel gesehen wird. Die Religionswissenschaft wird für diese Reflexion als Partnerin vorgestellt.
Wolfram Reiss und Robert Wurzrainer beschreiben in (I – 5.7.10) Anwendungsorientierte Religionswissenschaft: Aktuelle Beispiele und mögliche Entwicklungen. Dafür greifen sie die Entwicklungen am Lehrstuhl für Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien seit 2007 auf, wo das Konzept der Anwendungsorientierten Religionswissenschaft stetig weiterentwickelt wurde. Dieses knüpft an das Konzept der Praktischen Religionswissenschaft nach Udo Tworuschka an, hat aber eigene Merkmale, die herausgearbeitet werden. Die dargestellten Projekte umfassen die Gründung eines Vereins, Beratungstätigkeiten für Ministerien sowie das Mitwirken an der Erarbeitung und Entwicklung von Schulbüchern für den Ethikunterricht. Diese Schwerpunkte führten auch zur Anregung einer prinzipiellen Weiterentwicklung des Faches Religionswissenschaft: Neben den klassischen Teildisziplinen der Systematisch-vergleichenden Religionswissenschaft und der Religionsgeschichte kommen neue Teildisziplinen hinzu, die sich mit Ethik und Recht in den Religionen sowie mit der Didaktik der Religionskunde befassen.
Martin Rötting
(verantwortlicher Herausgeber für die EL 79)