Die Aleviten: Geschichte, Identität und Situation in Deutschland

Die Entdeckung einer verborgenen Gemeinschaft

Lange Zeit war die alevitische Gemeinschaft ein verborgenes Kapitel in der Geschichte des Islam. Mit Wurzeln tief in der anatolischen Erde und den Lehren von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed, beginnt unsere Reise in die Welt der Aleviten, einer Glaubensgemeinschaft zwischen Tradition und Moderne, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Historische Wurzeln: Die Safaviden und Kızılbaş

Die Geschichte der Aleviten ist untrennbar mit den Safawiden und den Kızılbaş verbunden. Im 16. Jahrhundert schufen diese Gruppen eine einzigartige Mischung aus schiitischem Islam und anatolischen Traditionen. Es war eine Zeit großer sozialer und politischer Umwälzungen, in der die Aleviten eine wichtige, aber oft missverstandene Rolle spielten. Die türkischen und kurdischen Aleviten sind übrigens nicht identisch mit den Alawiten im Westen Syriens und der türkischen Provinz Hatay, die in der Türkei auch „arabische Aleviten“ genannt werden und früher als Nusairier bezeichnet wurden.

Lehre und Brauchtum der Aleviten

Die alevitische Glaubensrichtung unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den traditionellen Strömungen des Islam. Ein zentraler Aspekt ihrer Spiritualität ist die Intimität der Gottesbeziehung, die als Privatangelegenheit betrachtet wird, sodass der Glaube nicht demonstrativ nach außen gelebt wird. Aleviten pilgern nicht nach Mekka und sie fasten nicht im Monat Ramadan. Auch ist der Genuss von Alkohol nicht verboten. Für alevitische Frauen besteht keine Pflicht zum Tragen eines Schleiers oder eines Kopftuchs.

Einzigartige Gottesvorstellung und Praxis

Die Aleviten nutzen nicht die Moscheen für ihre Gebete, sondern praktizieren ihre Religiosität in den Cem-Häusern, in denen Frauen und Männer gemeinsam am Gottesdienst teilnehmen. Im Gegensatz zu orthodoxen islamischen Traditionen, die den Koran oft wörtlich nehmen, suchen Aleviten nach der tieferen Bedeutung hinter den Offenbarungen. Sie betrachten den Koran nicht als Gesetzbuch, sondern als Glaubensbuch, das neben der äußeren auch eine innere, verborgene Bedeutung enthält, die nur den zwölf Imamen bekannt ist. Dementsprechend orientieren sich die Aleviten nicht an den „Fünf Säulen des Islam“.

Gleichstellung und göttliche Präsenz

Im Alevitentum sind Frauen und Männer gleichberechtigt, und alle Lebewesen, die mit einer unsterblichen göttlichen Seele ausgestattet sind, werden als Schöpfungen Gottes betrachtet. Diese Sichtweise unterstreicht die Bedeutung der Toleranz. Der Mensch wird als Spiegelbild Gottes angesehen, wobei Mohammed und Ali als Vorbilder dieser göttlichen Spiegelung gelten. Die Vernunft des Menschen, eine Gabe Gottes, verpflichtet jeden, sein Leben eigenverantwortlich zu führen, und Leid wird als Folge menschlichen Versagens gesehen.

Mensch im Mittelpunkt und kollektives Trauerbewusstsein

Die Aleviten stellen den Menschen und seine Verantwortung in den Mittelpunkt ihrer Lehre, identifizieren sich mit der Leidensgeschichte der Schiiten und verehren Ali. Das kollektive Trauerbewusstsein der Aleviten zeigt sich besonders in der Erinnerung an das Martyrium von Imam al-Ḥusain ibn ʿAlī.

Überwindung religiöser Vorschriften und mystisches Verständnis

Die Aleviten folgen nicht den religiösen Vorschriften, die im orthodoxen Islam als verbindlich gelten. Sie betrachten die Scharia als überholt und betonen die Mystik. Ihre religiösen Praktiken, Gebete und Fastenrituale unterscheiden sich grundlegend von denen anderer muslimischer Glaubensrichtungen. Sie orientieren sich an den Lehren der Imame, insbesondere des Imam Dschaʿfar as-Sādiq.

Gemeinschaft und Ethik

Die Beziehungen zu den Mitmenschen haben im Alevitentum einen höheren Stellenwert als dogmatische Fragen zu Tod und Jenseits. Dies spiegelt sich in der Praxis und im sozialen Engagement wider, wobei die Gemeinschaft und das Wohl des Nächsten im Vordergrund stehen. Diese Prinzipien bilden den Kern des alevitischen Glaubens und unterscheiden ihn deutlich von anderen islamischen Traditionen, indem sie einen Weg der Innerlichkeit, der Gleichheit und der menschlichen Verantwortung betonen.

Die Aleviten in Deutschland: Zwischen Anerkennung und Identitätssuche

In der Türkei kämpfen die Aleviten um Anerkennung und gegen Vorurteile, in Deutschland haben sie eine neue Heimat gefunden, in der sie ihre Identität frei leben können. Die Migration hat aber auch neue Fragen zu Identität und Glauben aufgeworfen.

Heute haben die Aleviten mit ca. 800.000 Mitgliedern eine bedeutende Präsenz in Deutschland, die auf die Anfänge der Gastarbeiterbewegung zurückgeht. Ihre starke Vertretung unter den ersten Gastarbeitern aus der Türkei resultierte aus ihrer vergleichsweise schlechteren wirtschaftlichen Lage und ihrer geringeren sozialen Integration in der Heimat. Politische Ereignisse in der Türkei, wie antialevitische Pogrome und politische Säuberungen nach dem Militärputsch von 1981, verstärkten die Migrationsbewegungen, sodass der Anteil der Aleviten an der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland heute als überproportional hoch eingeschätzt wird.

In Deutschland setzte sich zunächst die bereits in der Türkei begonnene Politisierung und Säkularisierung des Alevitentums fort. Die erste Generation der alevitischen Einwanderer engagierte sich vor allem in sozialdemokratischen und linken Organisationen. Mit der Zeit entstanden alevitisch geprägte Organisationen, die sich als Teil der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung verstanden. Diese Entwicklung markiert den Beginn einer expliziten politischen und gesellschaftlichen Aktivität der Aleviten in Deutschland, die sich von der religiösen Praxis in der Türkei unterscheidet.

Ab Ende der 1980er Jahre änderte sich das Bild: Die alevitische Gemeinschaft in Deutschland begann, ihre Identität stärker zu behaupten. Dieser Wandel wurde zum Teil durch das Erstarken des Islam unter den sunnitischen Migranten ausgelöst, wodurch die Aleviten ihre eigene religiöse und kulturelle Einzigartigkeit stärker zu schätzen wussten. Die ersten Cem-Zeremonien wurden in Deutschland abgehalten, oft unter der Leitung von Dede (religiöse Führer) aus der Türkei, und zogen Hunderte von Zuschauern an. Diese Veranstaltungen dienten nicht nur der religiösen Praxis, sondern auch der Traditionspflege und der Stärkung der kollektiven Identität.

In den 1990er Jahren stieg die Zahl der alevitischen Vereine in Deutschland innerhalb eines Jahres von 40 auf 100, was die Vielfalt und den Wunsch nach einer stärkeren Gemeinschaftsbildung unter den Aleviten widerspiegelt. Dieses Wachstum wurde durch tragische Ereignisse wie den Angriff auf eine alevitische Veranstaltung in Sivas, Türkei, beschleunigt, die die Notwendigkeit der Organisation und öffentlichen Bekanntmachung ihrer Identität und Glaubenspraxis unterstrichen.

Seit Ende der 1990er Jahre begannen sich die alevitischen Verbände in Deutschland verstärkt mit der Diasporasituation auseinanderzusetzen, strebten die Anerkennung als Religionsgemeinschaft an und setzten sich für die Einführung des alevitischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen ein. Diese Bemühungen führten 2002 zur Anerkennung des Kulturzentrums der Anatolischen Aleviten in Berlin als Religionsgemeinschaft. Dieser Erfolg stellt einen Präzedenzfall dar, der es den Aleviten in Deutschland ermöglicht, ihre Interessen im Bildungssystem geltend zu machen und Gleichbehandlung einzufordern.

Die alevitische Gemeinschaft in Deutschland weist eine große Heterogenität in ihren politischen, weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen auf. Dies spiegelt sich in den unterschiedlichen Interpretationen des Alevitentums wider, das von einigen als soziale Bewegung, humanistische Philosophie oder spezifische Lebensweise außerhalb religiöser Kriterien definiert wird. Andere sehen im Alevitentum den „wahren Islam“ oder eine eigenständige Religion. Diese Vielfalt unterstreicht die einzigartige Position der Aleviten in Deutschland, die auf den Ideen des Humanismus und der Toleranz basiert und sie von orthodoxeren Formen des Islam unterscheidet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die alevitische Gemeinschaft in Deutschland ein lebendiges Beispiel für die Komplexität und Dynamik religiöser und kultureller Identitäten in der Diaspora ist. Ihre Entwicklung von einer marginalisierten Einwanderergruppe zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft unterstreicht die Bedeutung von Anerkennung, Selbstbestimmung und Bewahrung kultureller und religiöser Traditionen in einer multikulturellen Gesellschaft.

Ausblick: Die Zukunft der alevitischen Gemeinschaft

Die Aleviten befinden sich heute an einem Scheideweg. Sie suchen nach Wegen, ihre Traditionen in einer sich ständig verändernden Welt zu bewahren und gleichzeitig neue Formen des Ausdrucks und der Gemeinschaftsbildung zu finden.

Die Aleviten bilden eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Orient und Okzident. Ihr Glaube, der von Toleranz, Liebe und dem Streben nach Erkenntnis geprägt ist, bietet wertvolle Einsichten für eine Welt, die zunehmend von Polarisierung und Konflikten geprägt ist. Ihre Geschichte und ihre Hoffnungen spiegeln die universelle Suche nach Sinn, Zugehörigkeit und Frieden wider.

Der vollständige Beitrag ist erschienen im Handbuch der Religionen:

Kehl-Bodrogi, Krisztina: Die Aleviten. 18. Ergänzungslieferung 2008. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Schlagwörter:

Aleviten, Cem-Häuser, Türkei, Anatolien, Islam, Deutschland

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