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„Und jedes Tier kennt sein Preislied“ – Einblick in die mystischen Auslegungen des Koran

Islam - Koran - Tiere - Preislied

Die Natur ist voller Wunder, und in vielen Kulturen und Religionen wird die Idee vertreten, dass jedes Lebewesen, jede Pflanze und sogar die unbelebte Natur ihre eigene Art hat, den Schöpfer zu preisen. Im Islam, insbesondere in den mystischen Traditionen des Sufismus, gibt es tiefe Überlegungen und Diskussionen darüber, wie nicht-menschliche Lebewesen ihre Spiritualität ausdrücken. Ein faszinierendes Thema, das in einem kürzlich im Handbuch der Religionen veröffentlichten Artikel beleuchtet wurde, befasst sich mit der Frage: Welche Bedeutung haben Tiere in den exegetischen Debatten der islamischen Mystik? Wie und warum preisen sie Gott?

Die Lobpreisung der Tiere im Koran

Der Koran ist reich an Versen, die Tiere erwähnen und ihre besondere Beziehung zu Gott beschreiben. So preisen beispielsweise Vögel gemeinsam mit dem Propheten David Gott, und Bienen empfangen göttliche Eingebungen. Diese Tiere sind nicht nur irdische Zeichen der Allmacht Gottes, sondern sie werden auch als Geschöpfe präsentiert, die aktiv an der Anbetung Gottes teilnehmen. Besonders bemerkenswert ist der Koranvers 17:44: „Es lobpreisen ihn [Gott] die sieben Himmel und die Erde und wer darin ist. Es gibt nichts, was nicht sein Lob preist. Aber ihr versteht ihren Lobpreis nicht.“

Dieser Vers und viele weitere werfen interessante Fragen auf: Haben Tiere eine eigene Form der Spiritualität? Wie unterscheidet sich diese von der menschlichen Frömmigkeit? Im Sufismus, einer mystischen Tradition des Islam, gibt es Antworten auf diese Fragen, die sowohl faszinierend als auch tiefgründig sind.

Sufismus und die Interpretation von tasbīḥ

Im Sufismus nimmt die Idee der Lobpreisung Gottes, des sogenannten tasbīḥ, einen zentralen Platz ein. Es handelt sich dabei nicht nur um die verbale Anbetung, sondern auch um eine tiefe innere Haltung der Ergebenheit und des Staunens vor der Schöpfung. In den koranischen Exegesen, besonders in den Werken bedeutender Sufi-Gelehrter wie Abū ʾl-Qāsim al-Qušayrī, wird tasbīḥ als ein Konzept betrachtet, das nicht nur für Menschen, sondern für alle Geschöpfe gilt.

Al-Qušayrī argumentiert in seinem Korankommentar Laṭāʾif al-išārāt, dass alle Lebewesen Gott auf ihre eigene Weise lobpreisen. Menschen tun dies durch Sprache, während Tiere und andere Lebewesen dies durch ihre bloße Existenz tun – indem sie Gottes Schöpfung und Ordnung in ihrer natürlichen Art und Weise reflektieren.

Mystische Ebenen der Koranauslegung

Die mystische Koraninterpretation, bekannt als taʾ wīl, geht über die wörtliche Bedeutung der Worte hinaus und sucht nach tieferen, verborgenen Bedeutungen. Sufi-Gelehrte glauben, dass der Koran auf mehreren Ebenen verstanden werden kann, von der äußeren sprachlichen Ebene bis hin zu den subtilen Wahrheiten, die in den Texten verborgen sind. Diese Ebenen der Bedeutung sind es, die die spirituelle Dimension des Korantextes erhellen und tiefe Einsichten in die Natur des Seins und die Beziehung aller Geschöpfe zu Gott ermöglichen.

Im Falle der Tiere bedeutet dies, dass ihre Lobpreisung nicht einfach als metaphorisch oder symbolisch verstanden werden sollte. Vielmehr wird sie als reale, spirituelle Handlung angesehen, die auf einer Ebene stattfindet, die für das menschliche Verständnis oft nicht zugänglich ist. Al-Qušayrī und andere Sufi-Gelehrte wie Naǧm ad-Dīn al-Kubrā und Abū ʿ Abd ar-Raḥmān as-Sulamī heben hervor, dass Tiere und sogar unbelebte Naturformen eine Art inneres Wissen und Verständnis besitzen, durch das sie Gott preisen.

Tiere als spirituelle Wesen

Die Vorstellung, dass Tiere spirituelle Wesen sind, die Gott auf ihre Weise lobpreisen, ist nicht nur eine theologische, sondern auch eine ontologische Herausforderung. Die klassische islamische Theologie unterscheidet oft zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Anbetung. Während die menschliche Anbetung als bewusste, willentliche Handlung betrachtet wird, die auf Erkenntnis und Entscheidung beruht, wird die Anbetung der Tiere als natürlicher Ausdruck ihres Daseins angesehen.

Al-Qušayrī unterscheidet in seiner Exegese klar zwischen der menschlichen Lobpreisung, die durch Sprache und Gebet erfolgt, und der Lobpreisung der Tiere, die auf ihrer bloßen Existenz basiert. Diese Unterscheidung ist entscheidend, da sie zeigt, dass die spirituelle Praxis nicht ausschließlich menschlich ist, sondern eine universelle Qualität hat, die alle Geschöpfe umfasst.

Die Ameise und die Tiefe ihrer Weisheit

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die spirituelle Dimension der Tiere im Koran ist die Geschichte der Ameise, die in der Sure 27, an-Naml, erzählt wird. In dieser Geschichte warnt eine Ameise ihre Artgenossen vor der herannahenden Heerschar des Propheten Salomo, damit sie nicht zertreten werden. Diese Ameise, die in der Lage ist, mit ihren Artgenossen zu kommunizieren und sogar die Sprache Salomos zu verstehen, wird als weise und von Gott geleitet dargestellt.

Al-Qušayrī interpretiert diese Geschichte als Ausdruck der tiefen Spiritualität der Ameise, die nicht nur eine physische, sondern auch eine spirituelle Führung verkörpert. Diese Interpretation unterstreicht die Vorstellung, dass Tiere nicht nur Teil der Schöpfung sind, sondern auch aktive Teilnehmer an der göttlichen Ordnung und Weisheit.

Eine neue Perspektive auf die Schöpfung

Die Idee, dass alle Geschöpfe – und insbesondere Tiere – in einer Art und Weise fromm sind, die über das menschliche Verständnis hinausgeht, ist tief in der islamischen Mystik verwurzelt. Diese Perspektive fordert uns heraus, unsere Beziehung zur Natur und zu den Tieren neu zu überdenken. Wenn wir Tiere nicht nur als Wesen betrachten, die in der physischen Welt existieren, sondern auch als spirituelle Wesen, die in ihrer eigenen Weise an der Anbetung Gottes teilnehmen, erweitert sich unser Verständnis von Frömmigkeit und Spiritualität erheblich.

Für diejenigen, die die tiefen Verbindungen zwischen allen Lebewesen und dem Göttlichen erforschen möchten, bieten die Lehren der Sufis eine reiche Quelle der Inspiration. Sie laden uns ein, die Welt um uns herum mit neuen Augen zu sehen und die unzähligen Weisen zu erkennen, auf denen die Schöpfung ihre Ehrfurcht vor dem Schöpfer ausdrückt.

Die Auseinandersetzung mit diesen Konzepten kann nicht nur unser spirituelles Verständnis vertiefen, sondern auch ethische und ökologische Implikationen haben, die in unserer modernen Welt von großer Bedeutung sind. Die Mystik lehrt uns, dass wir Teil eines größeren, göttlichen Plans sind und dass jedes Geschöpf seinen Platz und seine Rolle in diesem Plan hat. Indem wir diese Perspektive annehmen, können wir lernen, mit mehr Respekt und Mitgefühl gegenüber allen Formen des Lebens zu handeln.

Der vollständige Beitrag ist erschienen im Handbuch der Religionen:

El Maaroufi, Asmaa & Al-Daghistani, Raid: „Und jedes Tier kennt sein Preislied“ – Exegetische Debatten um nichtmenschliche Tiere und ihre Lobpreisungen in den mystischen Auslegungen von al-Qušayrī. 78. Ergänzungslieferung 2023. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2023.

Schlagwörter:
Tiere, Lobpreisung, Gottesbezogenheit, tasbīḥ, Schöpfungslehre, Tierethik, islamische Mystik, taʾwīl, Koranexegese, al-Qušayrī

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