Der St. Martinstag – Eine lebendige Tradition mit tiefer historischer Verwurzelung

Martinstag - St. Martin

Jedes Jahr am 11. November erstrahlen die Straßen vieler Städte und Dörfer in einem besonderen Licht. Kinder ziehen mit leuchtenden Laternen durch die Straßen, begleitet von Liedern, die die Legende des heiligen Martin von Tours erzählen. Diese Tradition hat eine lange und bewegte Geschichte, die weit über die leuchtenden Laternen und das Teilen eines Mantels hinausgeht. Doch wie hat sich dieses Brauchtum entwickelt und welche Bedeutung trägt es in sich? In diesem Blogbeitrag werfen wir einen genaueren Blick auf die Ursprünge und die Entwicklung des Martinsbrauchtums, das nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Teilen Europas tief verwurzelt ist.

Der Ursprung des Martinskults: Ein Heiliger und sein Vermächtnis

Der Ursprung des Martinstags liegt tief in der Geschichte des 4. Jahrhunderts, als der heilige Martin von Tours nach seinem Tod im Jahr 397 in Candes an der Loire zu einer zentralen Figur der christlichen Verehrung wurde. Er starb am 8. November 397 und wurde am 11. November beigesetzt, der bis heute ein Feiertag zu seinem Gedenken ist. Bereits kurz nach seinem Tod pilgerten Gläubige zu seinem Grab in Tours, wo eine Kapelle errichtet wurde, die später zu einer bedeutenden Wallfahrtsstätte wurde. Die Verehrung des heiligen Martin war nicht auf seine Heimatregion beschränkt, sondern verbreitete sich schnell über die Grenzen Galliens hinaus, insbesondere durch die gesellschaftlichen Eliten des frühen Mittelalters.

Martin von Tours, ursprünglich ein römischer Soldat, der seinen Dienst verweigerte und sich stattdessen dem christlichen Glauben widmete, wurde durch seine Taten und sein asketisches Leben zum Vorbild für viele. Sein berühmtestes Werk – das Teilen seines Mantels mit einem frierenden Bettler – symbolisiert Nächstenliebe und Selbstlosigkeit, Werte, die bis heute im Mittelpunkt des Martinstags stehen.

Vom Kult zur Tradition: Die Verbreitung des Martinsbrauchtums

Die Verbreitung der Verehrung des heiligen Martin erfolgte durch verschiedene religiöse und gesellschaftliche Kanäle. Besonders bedeutend war der Einfluss der martinischen Mönche, die das asketische Lebensideal ihres Vorbilds verbreiteten und damit die Grundlage für den späteren Martinskult legten. Diese Mönche, die als erste religiöse Ordensgemeinschaft auf europäischem Boden gelten, spielten eine zentrale Rolle bei der Ausweitung des Martinsbrauchtums über die Touraine hinaus.

Ein weiterer entscheidender Faktor für die Verbreitung war die Biografie des heiligen Martin, die von Sulpicius Severus verfasst wurde. Diese „Martinsvita“ verbreitete sich durch den römischen Buchhandel im gesamten Mittelmeerraum und trug dazu bei, dass der heilige Martin auch außerhalb Galliens bekannt wurde. Die Legende vom Soldaten, der zum Christen wurde und sich der Gewalt verweigerte, fand in einer Zeit, in der das Christentum zur Staatsreligion aufstieg, besondere Resonanz.

Martinsbrauchtum im Mittelalter: Von der Straße in die Häuser

Im Mittelalter erlebte das Martinsbrauchtum eine bedeutende Entwicklung. Es wurde nicht nur zu einem religiösen Festtag, sondern auch zu einem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis. Der 11. November markierte das Ende der Erntezeit und den Beginn der Wintervorbereitungen. In dieser Zeit wurden in vielen Regionen Karnevalselemente in das Martinsfest integriert, die in späteren Jahrhunderten jedoch aus dem liturgischen Kontext entfernt wurden.

Ein besonderes Element des Martinsbrauchtums war der Lichterbrauch, der sich aus der Tradition der Pilger ableitete, die mit Lichtern zum Grab des heiligen Martin zogen, um ihre Gebete zu verstärken. Dieser Brauch entwickelte sich später zu den heute bekannten Martinsumzügen mit Laternen.

Auch das Martinsfeuer, ein Brauch, der bis ins Mittelalter zurückreicht, wurde zu einem festen Bestandteil des Festes. Es symbolisierte nicht nur das Licht des Glaubens, sondern war auch ein Ausdruck der Gemeinschaft und des Feierns. Trotz wiederholter Versuche staatlicher Autoritäten, diesen Brauch zu unterdrücken, überlebte er bis in die Neuzeit und ist in vielen Regionen immer noch lebendig.

Die Bedeutung des Martinstags in der Neuzeit

Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich das Martinsbrauchtum und passte sich den jeweiligen gesellschaftlichen und religiösen Gegebenheiten an. Besonders im 19. Jahrhundert erlebte das Brauchtum eine Reform, die von bürgerlichen Erziehungsidealen geprägt war. In dieser Zeit wurde der Martinstag zunehmend zu einem Fest für Kinder, das pädagogische Werte wie Nächstenliebe und Teilen vermittelte.

Diese Reformbewegung führte auch zur Einführung der heute bekannten Gestalt des teilenden Reiters im Martinszug. Diese Figur symbolisiert die zentrale Legende des heiligen Martin und ist ein fester Bestandteil der Martinsumzüge in vielen Städten, insbesondere im Rheinland.

Martinsbrauchtum heute: Zwischen Tradition und Moderne

Heute ist der Martinstag in vielen Regionen Deutschlands und Europas ein fester Bestandteil des kulturellen Kalenders. Die Tradition der Martinsumzüge mit Laternen und Liedern wird in vielen Familien von Generation zu Generation weitergegeben. Doch das Martinsbrauchtum ist mehr als nur ein Kinderfest. Es ist ein lebendiger Ausdruck von Gemeinschaft und Nächstenliebe, der tief in der Geschichte verwurzelt ist.

Neben den traditionellen Umzügen und dem Martinsfeuer hat sich das Martinsbrauchtum auch in der modernen Gesellschaft weiterentwickelt. Es gibt zahlreiche Initiativen, die das Fest mit sozialen Projekten verbinden, um den Geist des Teilens und der Solidarität in die heutige Zeit zu tragen. So werden beispielsweise Martinszüge für wohltätige Zwecke organisiert, bei denen Spenden für Bedürftige gesammelt werden.

Auch interkulturelle und interreligiöse Aspekte gewinnen im Rahmen des Martinsbrauchtums zunehmend an Bedeutung. In Städten wie Düsseldorf nehmen Kinder aus verschiedenen Kulturen und Religionen an den Laternenumzügen teil und tragen so zur Integration und zum gegenseitigen Verständnis bei.

Fazit: Ein Fest mit tiefer Bedeutung

Der Martinstag ist weit mehr als ein Tag, an dem Kinder mit Laternen durch die Straßen ziehen. Er ist ein Fest, das auf eine lange und bewegte Geschichte zurückblickt und tief in der europäischen Kultur verwurzelt ist. Die Legende des heiligen Martin und die damit verbundenen Bräuche vermitteln zeitlose Werte wie Nächstenliebe, Solidarität und Gemeinschaft, die auch in der heutigen Zeit nichts von ihrer Bedeutung verloren haben.

In einer Welt, die zunehmend von Individualismus geprägt ist, erinnert uns der Martinstag daran, wie wichtig es ist, füreinander da zu sein und das Licht der Hoffnung in die Welt zu tragen. Möge der Geist des heiligen Martin uns auch in Zukunft begleiten und inspirieren, das Gute in unserer Gesellschaft zu fördern und zu bewahren.

Der vollständige Beitrag ist erschienen im Handbuch der Religionen:

Happ, Martin: Martinsbrauchtum. 63. Ergänzungslieferung 2020. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Schlagwörter:

Grab- und Pilgerkult in Tours, Sulpicius Severus, Benediktinerorden, Brauchtum der Eliten, „Brauchtum der Straße“, Reformation, Rheinische Reform (19./20. Jahrhundert), Martinsvita, Martinsbrauchtum

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