In Deutschland gibt es eine bemerkenswerte Vielfalt freigeistiger Organisationen, die alle durch eine naturalistische Weltsicht und eine starke Auseinandersetzung mit Religion und Spiritualität geprägt sind. Doch was genau bedeutet es, freigeistig zu sein, und welche Rolle spielen diese Organisationen in der heutigen Gesellschaft? Dieser Blogbeitrag nimmt Sie mit auf eine Reise durch die Geschichte, Entwicklung und die unterschiedlichen Typen freigeistiger Organisationen in Deutschland.
Was bedeutet „freigeistig“?
Der Begriff „freigeistig“ hat in Deutschland eine lange Tradition. Er umfasst eine Reihe von Organisationen, die sich seit dem 19. Jahrhundert als Alternativen zu den etablierten Kirchen und Religionen entwickelt haben. Freigeistige Organisationen zeichnen sich durch eine naturalistische Weltsicht aus, das heißt, sie basieren auf wissenschaftlichen und rationalen Ansätzen, um die Welt zu verstehen, und lehnen übernatürliche Erklärungen ab. Gleichzeitig setzen sie sich aktiv mit religiösen und spirituellen Themen auseinander, was sie von rein säkularen oder atheistischen Gruppen unterscheidet.
Die Humanistische Wende: Ein Wendepunkt für Freigeistige Organisationen in Deutschland
Die 1980er- und 1990er-Jahre markierten eine entscheidende Phase für freigeistige Organisationen in Deutschland, die als „humanistische Wende“ bekannt wurde. Dieser Wandel ging mit einer Neuausrichtung einher, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Struktur, die Zielsetzungen und das Selbstverständnis dieser Organisationen hatte. Aber was genau bedeutete diese Wende, und wie beeinflusste sie das freigeistige Spektrum?
Der Ausgangspunkt: Krise und Neudefinition
Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich viele freigeistige Organisationen in Deutschland mit einer Identitätskrise konfrontiert. Der Deutsche Freidenkerverband (DFV), der in der Weimarer Republik noch eine starke gesellschaftliche Rolle gespielt hatte, war nach 1945 stark geschwächt. Die freigeistigen Organisationen hatten Mühe, sich in einer Gesellschaft neu zu positionieren, die sich durch den Aufstieg der Popkultur und den Zerfall traditioneller Milieus stark verändert hatte.
Dieser Kontext führte zu intensiven Diskussionen innerhalb der Organisationen über ihre zukünftige Ausrichtung. Es wurde deutlich, dass das bisherige rationalistische und religionskritische Profil nicht ausreichte, um neue Mitglieder zu gewinnen und die gesellschaftliche Relevanz der freigeistigen Organisationen zu sichern. Hier setzte die humanistische Wende an.
Der Einfluss des europäischen Humanismus
Ein zentraler Aspekt der humanistischen Wende war die zunehmende Orientierung an den humanistischen Bewegungen in anderen europäischen Ländern, insbesondere in Belgien, den Niederlanden und Norwegen. In diesen Ländern hatte sich der Begriff „Humanismus“ als klare säkulare Alternative zu den traditionellen Religionen etabliert. Diese Bewegungen boten ein Vorbild für die freigeistigen Organisationen in Deutschland, die begannen, den Begriff „Humanismus“ stärker in ihre Programmatik zu integrieren.
Dieser Austausch führte zu einem Wandel im Selbstverständnis des DFV und anderer freigeistiger Organisationen. Der Begriff „Humanismus“ wurde zunehmend als zentraler Bestandteil einer neuen Identität gesehen, die nicht nur eine Alternative zur Religion, sondern auch eine positive, lebensbejahende Philosophie darstellte. Dies war eine Reaktion auf die Überalterung der Mitglieder und das Verschwinden der traditionellen Arbeiterkultur, die lange Zeit das Rückgrat der freigeistigen Bewegungen gebildet hatte.
Der neue Kurs: Von der Kritik zur Alternative
Im Zuge dieser Wende entwickelte der DFV eine neue Programmatik, die sich von der bloßen Religionskritik hin zu einem umfassenderen Angebot für konfessionsfreie Menschen verschob. 1989 formulierte der damalige Vorsitzende des DFV, Klaus Sühl, die Notwendigkeit eines radikalen Neuanfangs. Er betonte, dass das Freidenkertum seine alte Identität ablegen und sich als Interessenvertretung der konfessionsfreien Bevölkerung in Deutschland neu positionieren müsse.
Dieser Neuanfang manifestierte sich in mehreren konkreten Maßnahmen. Der DFV begann, seine Aktivitäten im Bildungs- und Sozialbereich auszubauen. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist das Fach Lebenskunde, das in Berlin als konfessionelles Alternativfach zum Religionsunterricht eingeführt wurde. Auch auf symbolischer Ebene vollzog der DFV einen Wandel. 1991 trat er der International Humanist and Ethical Union (IHEU) bei, und 1993 gründete er zusammen mit anderen freigeistigen Verbänden die Dachorganisation Humanistischer Verband Deutschlands (HVD). Diese Umbenennung spiegelte den neuen Kurs wider: Der Verband wollte nicht mehr nur eine Plattform für Religionskritik sein, sondern eine positive, humanistische Alternative bieten.
Die Konsequenzen der Wende
Die humanistische Wende führte zu einer stärkeren organisatorischen und inhaltlichen Differenzierung innerhalb des freigeistigen Spektrums. Während einige Verbände wie der HVD den neuen humanistischen Kurs mittrugen, gab es auch Widerstände, insbesondere von Gruppen, die stärker an der traditionellen Religionskritik festhalten wollten. Die Wende trug jedoch dazu bei, dass freigeistige Organisationen ihre gesellschaftliche Relevanz in einer zunehmend säkularen, aber dennoch religionsbezogenen Öffentlichkeit behaupten konnten.
Zwei Haupttypen freigeistiger Organisationen
Heute lassen sich freigeistige Organisationen in Deutschland grob in zwei Haupttypen einteilen: den sozialpraktischen und den weltanschaulich-agonalen Typus.
1. Der sozialpraktische Organisationstypus
Dieser Typus umfasst Organisationen, die sich stark auf die Mitgliedschaft konzentrieren und in der Praxis als Sozial- und Bildungsträger fungieren. Sie bieten ihren Mitgliedern und der breiten Öffentlichkeit soziale Dienstleistungen und Bildungsangebote an. Ein Beispiel hierfür ist der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), der in mehreren Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist und zahlreiche Einrichtungen betreibt, darunter Kindergärten und Schulen. Der HVD sieht sich als Interessenvertretung der Konfessionsfreien und bietet alternative Bildungsangebote wie das Fach Lebenskunde an, das in Berlin eine Alternative zum Religionsunterricht darstellt.
Ein weiteres Beispiel ist der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands (BFGD), der sich durch eine lange Tradition auszeichnet und heute vor allem im südwestlichen Deutschland aktiv ist. Diese Organisationen bieten ihren Mitgliedern nicht nur spirituelle Orientierung, sondern auch praktische Unterstützung, etwa durch Beratungsdienste und die Organisation von Lebensfeiern wie Hochzeiten und Beerdigungen.
2. Der weltanschaulich-agonale Organisationstypus
Im Gegensatz dazu steht der weltanschaulich-agonale Typus, der weniger auf Mitgliedschaft als auf Aktivismus und mediale Sichtbarkeit setzt. Diese Organisationen nehmen aktiv an öffentlichen Debatten teil und versuchen, gesellschaftliche und weltanschauliche Themen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) ist ein prominentes Beispiel für diesen Typus. Sie engagiert sich stark für die Verbreitung eines evolutionären Humanismus und tritt in medial wirksamen Kampagnen für eine strikte Trennung von Kirche und Staat ein. Ihre Aktionen zielen darauf ab, religiöse Dogmen zu hinterfragen und durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu ersetzen.
Eine ähnliche Ausrichtung verfolgt die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), die sich vor allem gegen Pseudowissenschaften wie Homöopathie wendet, aber auch eine kritische Haltung gegenüber religiösen Überzeugungen einnimmt, wenn diese wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen.
Die Herausforderungen einer einheitlichen Bewegung
Obwohl diese Organisationen gemeinsame Werte wie Aufklärung, Selbstbestimmung und eine kritische Haltung gegenüber religiösen Institutionen teilen, gibt es erhebliche Unterschiede in ihren Strategien und Zielen. Diese Unterschiede machen es schwierig, von einer einheitlichen freigeistigen Bewegung in Deutschland zu sprechen.
Die sozialpraktischen Organisationen wie der HVD streben danach, gleiche Rechte und Privilegien wie die christlichen Kirchen zu erhalten. Sie fordern beispielsweise das Recht, eigene Bildungseinrichtungen zu betreiben und staatliche Unterstützung zu erhalten. Im Gegensatz dazu plädieren die weltanschaulich-agonalen Organisationen wie die GBS für eine laizistische Gesellschaftsordnung, in der Religion und Staat vollständig getrennt sind. Diese beiden Ansätze stehen oft in einem Spannungsverhältnis zueinander, was die Zusammenarbeit innerhalb des freigeistigen Spektrums erschwert.
Fazit
Freigeistige Organisationen in Deutschland sind vielfältig und dynamisch. Sie bieten eine breite Palette von Aktivitäten und Dienstleistungen an, die von sozialer Unterstützung bis hin zu aktivistischem Engagement reichen. Trotz ihrer Unterschiede teilen sie das Ziel, eine aufgeklärte, rationalistische Weltanschauung zu fördern und sich kritisch mit religiösen und spirituellen Themen auseinanderzusetzen. In einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft spielen sie eine wichtige Rolle, indem sie Menschen, die sich keiner traditionellen Religion zugehörig fühlen, eine Alternative bieten.
Doch die Zukunft dieser Organisationen hängt davon ab, wie gut sie ihre unterschiedlichen Ansätze und Strategien in Einklang bringen können. Nur durch Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis können sie ihre Ziele effektiv verfolgen und einen Beitrag zu einer offenen, säkularen Gesellschaft leisten.
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