Die eine Sache: Was ist wirklich wichtig, wenn man Sterbende begleitet?

Inzwischen sind wir so daran gewöhnt zu glauben, wir müssten uns gegenseitig vor dem Gedanken an den Tod beschützen, dass die Erkenntnis, dass wir uns stattdessen eher gegenseitig durch ihn hindurch helfen müssen, einen kulturellen Wandel voraussetzt. Wir wissen, wie wertvoll ein Geburtshelfer ist, wenn ein Kind zur Welt kommt. Vielleicht sollten wir uns klar machen, dass ein „Sterbehelfer“ eine genauso wichtige Rolle spielt und die Interaktion zwischen ihm und dem Sterbenden eine tiefgreifende Wirkung auf beide hat. Geraldine English, die sich mit anderen Personen um ihren sterbenden Vater kümmerte, kommentierte:

„Ich halte es für ein Privileg, dass ich die letzten Wochen im Leben meines Vaters mit ihm verbringen konnte. Es war fast, als wären wir (ich, meine Mutter und mein Ex-Mann) so etwas wie ‚Hebammen’ gewesen.“ Wenn Sie mit einem Sterbenden zusammen sind, ist am Wichtigsten, dass Sie überhaupt da sind, und nicht, dass Sie etwas Bestimmtes tun. In praktischer Hinsicht bedeutet das: Sorgen Sie dafür, dass seine Umgebung friedlich, hell und freundlich ist; versuchen Sie nicht, komplett das Kommando zu übernehmen, alle Entscheidungen zu treffen und dem Sterbenden jeden Rest von Kontrolle über das Geschehen zu nehmen.

Denken Sie auch immer daran, dass wir möglicherweise ein sehr begrenztes und unscharfes Bild von dem haben, was der Sterbende erlebt. Auch wenn jemand scheinbar bewusstlos ist – in den Endphasen einer Krankheit ist das im Allgemeinen der Fall -, hört er vielleicht mehr, als wir uns vorstellen können; vielleicht spürt er unsere Berührung, auch wenn er nicht auf sie reagiert. Wenn wir seine Hand halten oder mit ihm sprechen, tut ihm das vielleicht mehr Gutes, als uns klar ist. Auch wenn wir das nie sicher wissen werden, kann zumindest uns selbst das Wissen trösten, dass wir versucht haben, sein Leben durch einen liebevollen Abschied abzurunden.

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Denken wir aber vor allem an Folgendes: In dieser Zeit verhalten wir uns im Allgemeinen so rücksichtsvoll und achten so penibel darauf, nichts Falsches zu sagen, dass viele richtige Dinge möglicherweise ungesagt bleiben. Wenn Sie dann später erkennen, dass es eine weitere Gelegenheit, sie zu sagen, nicht geben wird, kann dieses Versäumnis Ihren Kummer noch verstärken.

Lebensende-Erfahrungen legen nahe, dass der Sterbeprozess gut begleitet wird, dass der Sterbende am Ende oft mehr wahrnimmt, als vermutet, und dass die Unterstützung der Familie in dieser Zeit enorm wertvoll ist. Die Phänomene an sich sind faszinierend, egal wie wir sie zu erklären versuchen, aber nicht jeder erlebt sie. Alles, was wir bislang über den Tod und das Sterben gelernt haben, verweist auf etwas letztendlich sehr viel Wichtigeres, denn es betrifft jeden: Die wahren Hindernisse für einen guten Tod sind die „unerledigten Angelegenheiten“, zum Beispiel familiäre Konflikte und nicht aufgelöste persönliche Themen wie Schuldgefühle oder Hass; und unser wirkungsvollster Beitrag zum friedlichen und „guten“ Tod geliebter Menschen besteht darin, eine Versöhnung zu unterstützen, wann immer wir können.

Marie de Hennezel beschreibt eine Unterhaltung, die sie mit François Mitterand kurz vor seinem Tod hatte. Sie sprachen über die Zeit allgemein, den Lebenswillen und die Zeit, die ihm blieb. Sie wies darauf hin, dass der Lebenswille sich oft gegen die ärztliche Meinung durchsetzt, dass man dem Tod klarsichtig entgegensehen und doch bis zum Ende voller Leben sein kann. „Fangen Sie erst dann an zu sterben, wenn der Tod kommt“. Sie erörterten auch die Frage, ob Gläubige dem Tod gelassener entgegensehen als Nicht-Gläubige. De Hennezel erzählte ihm von einer Frau, die ihren Tod absolut gelassen erwartete und ihr sagte: „Ich bin nicht gläubig, aber ich bin neugierig auf das, was als Nächstes passiert.“ Und Marie de Hennezel fügt hinzu: „Nicht der Glaube, sondern die Struktur des Lebens, das Sie gelebt haben, erlaubt Ihnen, sich den Armen des Todes zu überlassen.“

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