Der kürzlich im Handbuch der Religionen erschienene Artikel „Jesus aus buddhistischer Sicht“ von Mathias Schneider bietet eine tiefgehende Analyse der buddhistischen Wahrnehmung von Jesus Christus und dessen Entwicklung im Laufe der interreligiösen Begegnungen. Es wird deutlich, dass die buddhistischen Interpretationen von Jesus nicht in einem Vakuum entstanden, sondern stark durch historische, politische und soziokulturelle Kontexte geprägt sind. Der Artikel zeigt sowohl die ablehnenden als auch wertschätzenden Perspektiven, die Buddhisten im Laufe der Zeit auf Jesus entwickelten.
Ein Blick auf die interreligiösen Begegnungen
Die Begegnung zwischen Buddhismus und Christentum reicht viele Jahrhunderte zurück, beginnend mit den kolonialen Aktivitäten des Westens in Asien. Besonders während der Kolonialzeit im 16. und 17. Jahrhundert wurden negative Bilder von Jesus in buddhistischen Ländern wie Sri Lanka, China und Japan entwickelt. Dies lag vor allem daran, dass der Kolonialismus oft mit der Missionierung durch christliche Vertreter einherging, was bei den Einheimischen als Bedrohung für ihre religiöse und kulturelle Identität empfunden wurde. Diese negative Wahrnehmung von Jesus reichte von seiner Dämonisierung als Sohn Māras, einem buddhistischen Dämon, bis hin zu seiner Ablehnung als falscher Lehrer.
Doch die Entwicklung der Ansichten über Jesus blieb nicht statisch. Im Laufe der Zeit, besonders im Zuge von Modernisierungsprozessen und einem wachsenden interreligiösen Dialog, entwickelten sich auch positivere Deutungen von Jesus. Diese reichten von seiner Einordnung als Bodhisattva, also einem Wesen, das auf dem Weg zur Erleuchtung ist, bis hin zur Anerkennung als Buddha.
Ablehnende Interpretationen: Jesus als Feindbild
In den Anfängen der kolonialen Begegnungen mit dem Christentum, vor allem in Sri Lanka und Japan, wurden stark ablehnende Bilder von Jesus gezeichnet. Diese Bilder spiegelten oft die Feindseligkeiten gegenüber den kolonialen Mächten wider, die das Christentum verbreiteten. Ein bekanntes Beispiel ist die singhalesische Volkserzählung vom „Carpenter-Heretic“, in der Jesus als Sohn Māras dargestellt wird. Māra ist im Buddhismus eine Verkörperung des Bösen und steht für Verblendung und Täuschung. In dieser Erzählung wird Jesus als jemand beschrieben, der den Buddhismus vernichten will, indem er die Menschen von der wahren Lehre ablenkt.
Solche Interpretationen waren in erster Linie eine Reaktion auf den Druck der christlichen Missionare, die den Buddhismus als irrige Lehre bezeichneten. Buddhistische Denker wie der singhalesische Reformbuddhist Anagārika Dharmapāla kritisierten den christlichen Erlösungsgedanken scharf. Dharmapāla lehnte die Vorstellung eines allmächtigen Gottes, der das Opfer eines unschuldigen Menschen fordert, als grausam und unvereinbar mit buddhistischen Idealen der Gewaltlosigkeit ab.
Wertschätzende Interpretationen: Jesus als Bodhisattva
Mit der Öffnung für den interreligiösen Dialog und den Modernisierungsprozessen in asiatischen Ländern begannen einige buddhistische Denker, Jesus in einem positiveren Licht zu sehen. Hier wurde Jesus oft als Bodhisattva interpretiert, also als ein Wesen, das aus Mitgefühl für andere auf die Erleuchtung hinarbeitet. Diese Interpretation von Jesus als Bodhisattva basiert auf der buddhistischen Vorstellung, dass ein Bodhisattva Mitgefühl und Weisheit verkörpert und sich selbstlos für das Wohl aller Lebewesen einsetzt.
Der Dalai Lama und andere buddhistische Denker sehen in der Lehre Jesu Parallelen zur buddhistischen Ethik. Besonders die Bergpredigt, in der Jesus zur Feindesliebe aufruft, wird oft mit dem buddhistischen Ideal des Mitgefühls (karuṇā) verglichen. Jesus‘ Selbstopfer am Kreuz wird in diesem Kontext als Ausdruck von Mitgefühl interpretiert, ähnlich dem Ideal eines Bodhisattva, der sein eigenes Leben für das Wohl anderer opfert.
Die Rolle des Kreuzes: Symbol des Mitgefühls
Ein zentrales Thema in der christlichen Theologie ist der Kreuzestod Jesu, der als Sühneopfer für die Sünden der Menschheit verstanden wird. Diese Vorstellung wurde von vielen buddhistischen Denkern zunächst abgelehnt, da sie im Widerspruch zur buddhistischen Ablehnung von Gewalt und Opfern steht. Doch im Laufe des interreligiösen Dialogs begannen einige buddhistische Denker, den Kreuzestod Jesu anders zu deuten. Sie sahen darin ein symbolisches Opfer, das mit dem Bodhisattva-Ideal des selbstlosen Gebens übereinstimmt. Masao Abe, ein bedeutender Vertreter des Zen-Buddhismus, interpretierte den Kreuzestod Jesu als Ausdruck von Selbstlosigkeit und Mitgefühl, ähnlich dem Handeln eines erwachten Bodhisattva.
Jesus als Buddha: Eine buddhistische Perspektive
Ein weiterer Aspekt der wertschätzenden Interpretation Jesu ist seine Einordnung als Buddha. In einigen Mahāyāna-Traditionen wird Jesus als Buddha betrachtet, also als ein Wesen, das die höchste Erleuchtung erreicht hat. Diese Sichtweise basiert auf der Vorstellung, dass es viele Buddhas gibt, die in verschiedenen Epochen und Welten erscheinen, um den Menschen den Weg zur Erleuchtung zu weisen. Jesus wird hier als einer dieser Buddhas interpretiert, der den Menschen seiner Zeit den Dharma, die universelle Wahrheit, lehrte.
Fazit: Jesus im buddhistischen Kontext
Die buddhistischen Interpretationen von Jesus sind vielfältig und reichen von seiner Ablehnung als dämonischer Irrlehrer bis hin zu seiner Anerkennung als Bodhisattva oder sogar als Buddha. Diese Interpretationen sind nicht nur Ausdruck theologischer Überlegungen, sondern auch das Ergebnis historischer und politischer Begegnungen zwischen Buddhisten und Christen. Während in Zeiten kolonialer Unterdrückung negative Bilder von Jesus vorherrschten, hat der interreligiöse Dialog des 20. und 21. Jahrhunderts zu einer differenzierteren und oft positiveren Wahrnehmung geführt.
Für Buddhisten, die an der Förderung von Mitgefühl und Weisheit interessiert sind, bietet die Figur Jesu auch heute noch viele Anknüpfungspunkte für einen fruchtbaren interreligiösen Dialog.
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