„Sein Blut komme über euch“: Der Schatten des christlichen Antijudaismus

Christlicher Antijudaismus

Die Geschichte des christlichen Antijudaismus ist ein düsteres Kapitel in der Beziehung zwischen Christentum und Judentum. Diese Feindseligkeit, die ihre Wurzeln in den Evangelien hat, entwickelte sich über Jahrhunderte hinweg und führte zu Verfolgung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. Der Satz „Sein Blut komme über euch“ aus dem Matthäusevangelium (Mt 27,25) symbolisiert die kollektive Schuldzuweisung an die Juden für den Tod Jesu und bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe von antijüdischen Vorwürfen und Legenden.

Die Ursprünge des Antijudaismus in den Evangelien

Die Evangelien enthalten viele polemische Äußerungen, die später antijüdisch interpretiert wurden. Diese Darstellungen führten dazu, dass Jesus von Nazareth, der selbst ein Jude war, von seiner eigenen Gemeinschaft entfremdet und „den Juden“ gegenübergestellt wurde. Besonders das Johannesevangelium stellt die Juden als „Söhne der Finsternis“ dar, was in der Auslegungsgeschichte eine verhängnisvolle Wirkung hatte.

Mittelalterliche Vorwürfe und Legenden

Im Mittelalter entfachten antijüdische Vorwürfe wie die Ritualmordlegende und die Beschuldigung der Hostienschändung immer wieder Verfolgungen. Diese Anschuldigungen dienten dazu, die Vertreibung oder Ermordung von Juden zu rechtfertigen. Die Legende vom Ritualmord besagt, dass Juden christliche Kinder töten würden, um deren Blut für rituelle Zwecke zu verwenden. Solche Geschichten fanden breite Akzeptanz und wurden oft von der Kirche unterstützt.

Ein anderes antijüdisches Motiv, das bis heute virulent ist, ist die Rede von der Brunnenvergiftung durch Juden. Die Beschuldigung der Brunnenvergiftung kam im Frühjahr 1348 mit dem Schwarzen Tod, der Pest, auf: als Verschwörung zur Ausrottung aller Christen. Für die jüdische Bevölkerung hatte der Vorwurf verheerende Konsequenzen.

Pogrome als Ausdruck des antijüdischen Hasses

Pogrome, gewaltsame Angriffe auf jüdische Gemeinden, waren häufige und tragische Ereignisse in der Geschichte des christlichen Antijudaismus. Besonders verheerend war der erste Kreuzzug im Jahr 1096, bei dem Kreuzritter auf ihrem Weg ins Heilige Land jüdische Gemeinden in Nordfrankreich, der Provence und entlang des Rheins massakrierten. Etwa 5000 Menschen wurden ermordet oder begingen Selbstmord, um der Zwangstaufe zu entgehen. Diese Gewalttaten wurden oft durch religiösen Eifer und antijüdische Predigten angeheizt.

Im Zuge der Pestepidemie im 14. Jahrhundert kam es zu weiteren Pogromen. Juden wurden beschuldigt, die Brunnen vergiftet zu haben, was zu großflächigen Angriffen auf jüdische Gemeinden in Mitteleuropa führte. Nach den Pestpogromen von 1350 waren viele bedeutende jüdische Gemeinden in den deutschen Ländern ausgelöscht, und etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Europas war getötet oder vertrieben worden.

Ein weiteres Beispiel für antijüdische Gewalt ist die Rintfleisch-Verfolgung von 1298, die nach dem Anführer eines Mobs benannt wurde. Dieser beschuldigte Juden in Röttingen an der Tauber der Hostienschändung, was zu einem flächendeckenden Pogrom in Franken, Bayern und Österreich führte. 140 jüdische Gemeinden wurden zerstört, oft aus wirtschaftlichen Spannungen heraus und wegen der Schulden von Christen bei Juden.

Die christliche Kunst und die Visualisierung der Feindbilder

Die christliche Kunst des Mittelalters trug wesentlich zur Verbreitung antijüdischer Stereotype bei. Jesus wurde oft als leidender Schmerzensmann dargestellt, und die Juden wurden als seine Folterknechte gezeigt. Diese Darstellungen brachten die vermeintlichen „Christusmörder“ in die Gegenwart und machten sie zu einem Feindbild der christlichen Laien.

Reformation und frühe Neuzeit: Alte Feindbilder in neuem Gewand

Die Reformation brachte eine neue Welle antijüdischer Polemik. Martin Luther, der anfangs eine moderate Haltung gegenüber den Juden einnahm, änderte seine Meinung drastisch, als die Juden seine Vorstellungen von einer erneuerten Kirche nicht annahmen. In seinen Schriften „Von den Juden und ihren Lügen“ rief er zu Gewalt gegen Juden auf und verstärkte somit die bestehenden Vorurteile.

Antijudaismus in der Moderne: Von der Aufklärung zum Nationalsozialismus

Auch in der Moderne blieb der christliche Antijudaismus virulent. Der politische Antisemitismus und der Nationalsozialismus griffen auf alte christliche Stereotype zurück. Die Vorstellung eines entjudaisierten Jesus fand in der Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt. Theologen wie Walter Grundmann arbeiteten daran, eine arische Identität des historischen Jesus zu konstruieren.

Der Weg zur Versöhnung: Nachkriegszeit und Zweites Vatikanisches Konzil

Nach dem Holocaust begannen die christlichen Kirchen, ihr Verhältnis zum jüdischen Volk neu zu überdenken. Das Zweite Vatikanische Konzil (1965) markierte einen Wendepunkt. In der Erklärung Nostra Aetate distanzierte sich die katholische Kirche von der Lehre, dass die Juden für den Tod Christi verantwortlich seien, und betonte die Notwendigkeit der Versöhnung.

Fortbestehende Herausforderungen und der Blick in die Zukunft

Trotz dieser Fortschritte bestehen antijüdische Stereotype und missionarische Bestrebungen gegenüber Juden weiterhin. Besonders in der muslimischen Welt finden christliche Feindbilder neue Resonanz. Es bleibt die Aufgabe der christlichen Theologie, eine Christologie zu entwickeln, die ohne antijüdische Polemik auskommt und die jüdischen Wurzeln Jesu respektiert.

Fazit: Die Notwendigkeit einer neuen Theologie

Die Geschichte des christlichen Antijudaismus zeigt, wie tief verwurzelte Vorurteile und Feindbilder über Jahrhunderte hinweg bestehen können. Es ist entscheidend, dass christliche Theologen eine Christologie entwickeln, die ohne Karikaturen des Judentums auskommt und die gemeinsame Geschichte respektiert. Nur so kann eine echte Versöhnung zwischen Christen und Juden erreicht werden. Die Lehren aus der Vergangenheit sollten uns dazu anregen, eine Zukunft zu gestalten, in der Toleranz und gegenseitiger Respekt im Vordergrund stehen.

Der vollständige Beitrag ist erschienen im Handbuch der Religionen:

Homolka, Walter: „Sein Blut komme über euch“: Jesus Christus als Motiv für christlichen Antijudaismus. 80. Ergänzungslieferung 2024. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Schlagwörter:
Antijudaismus, Antisemitismus, Gottesmord, Hostienschändung, Jesus Christus, Kreuzigung, Ritualmordlegende, Schmerzensmann, Substitutionstheorie

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