Der Weißstorch

Weißstorch

Der Weißstorch: Vom Vogel zum Kult

Was fasziniert am Weißstorch so sehr, dass er wie wohl kein anderer Vogel unsere Aufmerksamkeit erringen konnte? Sogar das Höchste im Menschenleben haben wir ihm angetragen: das Kinderbringen.

Mit ihrer oft über zwei Meter weiten Flügelspanne, ihrem bis auf die schwarzen Schwungfedern rein weißem Federkleid und dem langen rötlichen Schnabel und grazilen Beinen erleben wir den Storch als stolzen Vogel.

Der Weißstorch, der in Europa bekannteste Storch, hat sich von sich aus aktiv in die Kultur vorgewagt, sich dem Lebensraum der Menschen aufs Engste angeschlossen und kommt ihnen damit wie kaum ein anderer Vogel nahe. Er nistet oft auf Gebäuden, Schornsteinen und Türmen, weshalb er früheren Bezeichnungen nach auch Hausstorch genannt wurde.

Gleichzeitig bleibt er das wilde, anmutige Tier, das jedes Jahr, wenn bei uns der Spätsommer kommt, eine Strecke von über 10.000 Kilometer nach Afrika südlich der Sahara zurücklegt, um dort aufgrund von winterlicher Nahrungsknappheit in unseren Breiten zu überwintern. Unabhängig voneinander machen sich Eltern und Jungvögel dann auf den langen Weg nach Süden und kommen entweder im selben oder auch erst nach ein paar Jahren im Frühjahr wieder zu uns zurück.

Daher ist der Storch bei uns auch als Frühlingsbote bekannt.

Menschen schreiben vielen Vogelarten schon seit Tausenden von Jahren besondere Attribute und Bedeutung zu: ob Pleitegeier, Dreckspatz, Rabenvater, die Friedenstaube oder die diebische Elster. Doch bei keinem Vogel sind diese Zuschreibungen so fest im kollektiven Unbewusstsein verankert wie beim Weißstorch.

Glücksbringer, Frühlingsbote und vor allem das Bild des Storchs als Kinderbringers hat sich in der westlichen Kultur verfestigt.

Schon frühere und auch fernere Kulturen bedienten sich des Storchs, um in ihrer Kultur wichtige Bindungen, Orientierungen und Werte zu versinnbildlichen.

Im alten Ägypten entstand der Mythos, Störche würden ihre Eltern im Alter versorgen. Die jungen Störche würden die Liebe, Verehrung und Fürsorge an die Alten gewissermaßen zurückzahlen, wenn sie schwach seien.

Biologisch ist das abwegig. Doch die Griechen der Antike übernahmen diesen Mythos und hefteten dem Weißstorch das Bild des dankbaren, ehrfürchtigen Vogels an, der seinen Eltern die Fürsorge der eigenen Kindheit zurückgibt. Diese moralisch hoch positiv bewertete Haltung wurde Antipelargesis genannt: „pelargos“ für den Weißstorch, „anti“ im Sinne einer Rückgabe – übersetzt also „Storchendank“. Sie gingen so weit, daraus ein Gesetz zu formen, das die jungen Athener zu Dank und Pflichterfüllung gegenüber ihren Erziehern anhielt.

Im Römischen Reich wurde der Weißstorch als Sinnbild für die Verehrung der Vorfahren, der Götter und – für die Machthaber überaus dienlich – der Obrigkeit, letztlich des Staates, übernommen. So ließ er sich nach solch ideologischer Vorarbeit für verschiedene Zwecke instrumentalisieren, die sich nur noch entfernt im Sinne der frommen Verehrung verstehen lassen.

Angelehnt an den antiken Mythos erkannte die christliche Kirche im Weißstorch die Erfüllung des vierten Gebotes „Du sollst Vater und Mutter ehren“ und machte sich das Image der Frömmigkeit und Fürsorge für die Alten zu eigen. Gleichzeitig wurde der Storch zum Gegenspieler des Teuflischen und der Sünde, indem er „niederes“ Getier frisst, insbesondere Schlangen, die als mit dem Teufel im Bunde gesehen wurden.

Überhaupt symbolisiert der Storch allerlei gesellschaftlich positiv bewertete Eigenschaften: neben Keuschheit, Jungfräulichkeit, Reinheit, Unschuld und Enthaltsamkeit auch Naturverbundenheit, Ökologie, Naturschutz, Freiheit, Kinderreichtum und Familienleben. In der Kunst steht der Weißstorch oft als Gegenpol zum sündhaften Affenmenschen.

Begründet kann angenommen werden, dass der Weißstorch ein gebürtiger Afrikaner ist.

Programmatische Rodungswellen mit einer großflächigen landwirtschaftlichen Folgenutzung erfolgten in den mitteleuropäischen Lagen ab ca. 800 n. Chr. Erst ab diesen Zeiträumen wurde es möglich, dass der Weißstorch in breiter Front aus dem Südwesten und Südosten einwanderte.

Da Störche Zugvögel sind und den Winter in Afrika verbringen, wurde ihre Rückkehr im Frühjahr mit neu erwachtem Leben assoziiert. Darüber hinaus besteht ihr Lebensraum aus sumpfigen, feuchten Gebieten, in denen sie durchs Wasser waten. Die Bedeutung des Wassers ist interkulturell dominant und ein Symbol der Fruchtbarkeit und vermutlich die ursprünglichste Überlieferung fast aller Kinderherkunftsmythen.

Vor diesem Hintergrund bildete sich vermutlich die Vorstellung, dass Störche auch menschliches Leben überbringen.

Einer Germanischen Sage nach herrschte über das Seelenreich die Göttin Holda, welche die Seelen der Ungeborenen bewachte. In ihrem Auftrag holte der Storch die Seele des Kindes aus dem Wasser und brachte es als Botengänger vom Kinderteich zum Menschen.

Pietistische Strebungen machten sich das reine Image des Weißstorches zu Nutze. Sie benannten ihn als den Kinderbringer und konnten somit Sexualität, die von der Kirche abgelehnt wurde, mit dem Storch als Kinderbote andeuten, ohne sie auszusprechen. Die Überlieferung per Luft kommt der unbefleckten, jungfräulichen Empfängnis Marias nahe.

Kaum ein Vogel wird in unserer Kultur so positiv erlebt wie der Weißstorch.

Der Weißstorch ist ein gern gesehener Bewohner unserer offenen Landschaften. Doch wurden bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts für die Bestände des Weißstorchs durch massive wasserbauliche und landwirtschaftliche Eingriffe große Einbußen zu verzeichnen gewesen. Um 1980 war der Bestand in Nordrhein-Westfalen fast vollständig erloschen. In dieser Zeit bildete sich das Aktionskomitee „Rettet die Weißstörche im Kreis Minden-Lübbecke“ e.V. Durch Maßnahmen wie die Erhaltung und Entwicklung von Storchenlebensräumen und die Schaffung von Nistmöglichkeiten konnten die drei letzten Brutpaare im Kreisgebiet erhalten werden.

Sind Sie neugierig geworden und möchten mehr über den Weißstorch erfahren?
Dann empfehlen wir Ihnen gleich drei Bücher:

Anne Kleemann & Alfons Rolf Bense: „Der Weißstorch – Niedergang und Rückkehr einer nordwestdeutschen Population“ (ISBN 978-3-86617-193-0). Auf 132 Seiten wird auf mitreißende Weise der Storch, seine Biologie und Ökologie und der Storchenschutz zwischen 1980 und 2020 im Kreis Minden-Lübbecke thematisiert. Das Credo des Buches lautet: Natur- und Artenschutz lohnt sich und ist erfolgreich!

Alfons Rolf Bense: „Der Weißstorch – Vom Vogel zum Kult“ (ISBN 978-3-86617-139-8). Dieses Buch durchforscht die Kulturgeschichte des Weißstorchs, die sich heute noch bis in das Reich der ägyptischen Pharaonen zurückverfolgen lässt. Das Buch lebt von zahlreichen und eindrucksvollen Illustrationen und eignet sich so auch zum durchblätternden Verstehen.

Alfons Rolf Bense: „Vom unglaublich vielfältigen Bild des Weißstorchs auf historischen Ansichtskarten“ (ISBN 978-3-86617-119-0). Das Buch zeigt über 220 historische Postkartenmotive vom Weißstorch. Themen wie Unschuld, Aufklärung, Sex, Verhütung und Impotenz, aber auch Krieg, Freiheit, Not, Adel und Fortschritt ließen sich mit dem Storch verbildlichen und unters Volk bringen. Eine mit üppigem Bildmaterial angereicherte Analyse, die auch zum Schmunzeln und Lachen anregt.

Über die Autor:innen:

Anne Kleemann, M.Sc., geb. 1993 in Paderborn, hat an der Universität Hildesheim den Bachelor in Umweltsicherung sowie den Master in Umwelt, Naturschutz und Nachhaltigkeitsbildung abgelegt. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in avifaunistischen Kartierungen sowie artenschutzfachlichen Gutachten. Im Zuge Ihrer Masterarbeit hat sie den Kontakt zum Aktionskomitee gefunden und hat sich von der Faszination der Störche anstecken lassen.

Alfons Rolf Bense, Dr. med. Dr. phil. Dipl.-Psych., geb. 1951 in Braunschweig, studierte Psychologie und Medizin in Berlin. Als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und für Innere Medizin im Storchendorf Windheim niedergelassen. Veröffentlichungen im Bereich Psychotherapie, Natur- und Denkmalschutz, eine glückliche Verbindung, wie er findet. Träger des Bundesverdienstkreuzes, Weißstorchbetreuer, langjähriger ehrenamtlicher Mitarbeiter und Beringer der Vogelwarte Helgoland, Vorstandsmitglied im Aktionskomitee sowie des Vereins „Denk-mal! Windheim No2“, dem Haus des Westfälischen Storchenmuseums.

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