Zum zweiten Mal in der 25-jährigen Geschichte des HdR präsentieren wir eine Ergänzungslieferung, die monothematisch ausgerichtet ist und von zwei HdR-Fachgebietseditoren betreut wird: Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka und Hartmut Bomhoff, M.A. sind für die EL 77 zum Thema Judentum verantwortlich.
Die vorliegende EL 77 widmet sich Facetten des liberalen Judentums, das vor gut 250 Jahren seine Anfänge in den deutschen Ländern nahm und sich Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die USA verbreitete. Dort wurde es ebenso wie im Deutschen Reich bald zur dominanten jüdischen Denomination. Heute ist es die mitgliederstärkste religiöse Strömung im Judentum weltweit.
2021 wurde der 1.700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland gedacht. Dies war eine Gelegenheit, auf die reiche Vielfalt an jüdischer Vergangenheit zurückzublicken. Dabei wurde deutlich, dass Wandel seit jeher konstitutiv für das Judentum ist. Jede Zäsur in der mehr als 3.000-jährigen Entwicklung der jüdischen Religion brachte kultische und soziale Veränderungen mit sich. Der chassidische Rabbi Ahron aus Karlin (1802–1872) brachte das auf den Punkt: „Wer nicht jeden Tag etwas erneuert, zeigt, dass er auch nichts Altes hat.“
Eine solche Zäsur war die Aufklärung und mit ihr die bürgerliche Emanzipation der Juden im 19. Jahrhunderts. Der Eintritt der deutschen Judenheit in die Moderne vor gut 250 Jahren eröffnete Freiräume, die die Reformbewegung und die jüdische Neo-Orthodoxie hervorbrachten, aber auch die Wissenschaft des Judentums. Ziel war es, Tradition und Moderne in die Balance zu bringen. Dabei ergaben sich zeitweise Konvergenzen zwischen aufgeklärten Christen und Juden. Der Beitrag „‚Der gemeinschaftliche Fortschritt zum Besseren‘ Rationale Theologie als Moment christlich-jüdischer Annäherung“ [Walter Homolka] beschreibt, wie sich jüdisches und protestantisches Denken im späten 18. Jahrhunderts annäherten, bis Schleiermachers Kulturprotestantismus die evangelische Theologie auf einen Kurs brachte, der sie dem Judentum wieder entfremdete
Rabbiner Leo Baeck (1873–1956), der bedeutendste Repräsentant des liberalen deutschen Judentums im 20. Jahrhundert[i], würdigte insbesondere die moderne Wissenschaft des Judentums als eine der großen Errungenschaften des deutschen Judentums. Der Beitrag „,Durch Wissen zum Glauben‘ ‒ Die Wissenschaft des Judentums im Kontext der Rabbinerausbildung“ [Walter Homolka] zeichnet den Weg nach, den dieses Fach von Abraham Geigers Appell zur Errichtung einer „jüdisch-theologischen Facultät“ im Jahr 1836 bis zur Eröffnung der School of Jewish Theology an der Universität Potsdam 2013 nahm. Damit erfüllte sich endlich Geigers Forderung nach der „Gleichberechtigung des Judentums mit den anderen Konfessionen“. Die Frage nach der Rolle von Theologien an staatlichen Universitäten, also in einem säkularen Umfeld, ist hochaktuell.
Rabbiner Prof. em. Dr. Daniel Krochmalnik, von 2018 bis 2022 ordentlicher Professor für Jüdische Religion und Philosophie (Altertum und Mittelalter) an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam, hat die Forschungsschwerpunkte Jüdische Theologie und Aufklärung. In seinem Beitrag „Jüdische Theologie als Wissenschaft“ zeigt er auf, dass die Jüdische Theologie in der jüdischen Tradition allgegenwärtig ist, somit ein originär jüdisches Fach ist, und dass die Wissenschaft des Judentums Jüdische Theologie voraussetzt.
Das Ringen um rechtliche Emanzipation und gesellschaftliche Partizipation im 19. und frühen 20. Jahrhundert ging mit der Konfessionalisierung des Judentums einher. Der Beitrag „‚Liberal zu sein ist so viel schwerer‘. Zur Begriffsgeschichte von ‚liberal‘ und ‚orthodox‘“ [Hartmut Bomhoff] beschreibt die Begriffs- und Identitätsfindung im Zuge der religiösen Ausdifferenzierung in Alten und Neuen Ritus, in neo-orthodoxes und liberales Judentum; er macht zudem deutlich, dass das liberale Judentum ein wesentlicher Teil des deutsch-jüdischen Kulturerbes ist, das zu erhalten und zu pflegen sich die deutsche Bundesregierung verpflichtet hat, als sie 2003 den Staatsvertrag mit der jüdischen Gemeinschaft schloss.
Dieses deutsch-jüdische Kulturerbe ist Thema der Politologin und Historikerin Dr. Elke-Vera Kotowski, die seit 1994 an der Universität Potsdam forscht und lehrt. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die europäisch-jüdische Kulturgeschichte. Die Chefkuratorin und geschäftsführende Direktorin des Moses Mendelssohn Instituts in Berlin geht in ihrem Beitrag „Weit von Wo? Heimat(-Verlust), Kulturtransfer und Identitätsfragen innerhalb des deutschen Judentums einst und heute“ zum einen den Spuren deutschsprachiger Juden in der Emigration nach, zum anderen der Frage nach der Identitätsbildung der über 220.000 Zuwanderer und Zuwanderinnen jüdischer Herkunft aus der früheren Sowjetunion in Deutschland. Sie beschreibt dabei auch die Transformation und Diversifizierung der jüdischen Gemeinschaft hierzulande, wo nur noch gut 90.000 Juden und Jüdinnen Mitglieder von Synagogengemeinden sind.
Religiöser Pluralismus ist ebenfalls Thema des Beitrages „Neuanfang und Rückbesinnung. Das liberale Judentum in Deutschland nach der Schoa” [Walter Homolka]. Er schildert, wie schon vom Frühjahr 1945 an sich liberale Rabbiner und Gemeindemitglieder für den Neuaufbau jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland engagierten, dies auch mit Unterstützung der World Union for Progressive Judaism und deren langjährigen Präsidenten Leo Baeck. Er prägte 1946 den Satz „Die Idee bleibt, um in neuen Formen weiterzuwirken.“ Das liberale Judentum in Deutschland zeigt sich heute egalitär, zeitgemäß und offen für den Dialog.
Prof. Dr. Susanne Plietzsch, Professorin für Judaistik und Leiterin des Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg, setzt sich in ihrer Rezension mit dem Titel „Geöffnete Türen“ mit „Das Neue Testament – jüdisch erklärt“ (hg. von Wolfgang Kraus, Michael Tilly und Axel Töllner, Stuttgart 2021) auseinander, der deutschen Übersetzung der 2017 bei Oxford University Press erschienenen zweiten Auflage des Jewish Annotated New Testament (erste Auflage 2011). Plietzsch, deren Forschungsschwerpunkte jüdische Bibelauslegung und rabbinische Literatur sowie epochenübergreifende Fragen jüdischer Religionsgeschichte und jüdisch-christlicher Beziehungen sind, kommt zu dem Schluss, dass die deutschsprachige Ausgabe „neue Wege zum Verständnis des Neuen Testaments, seiner Umwelt und seiner Wirkungsgeschichte“ aufzeigt. Sie steht damit in der Tradition von Leo Baeck, der 1938 im Berliner Schocken-Verlag „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“ veröffentlichte.
Vielstimmigkeit war und ist Ausdruck lebendigen Judentums. 2010 erstellte der L. A. Pincus Fund for Jewish Education in the Diaspora die 255 Seiten umfassende Studie „Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland“, die bis heute maßgeblich ist.[ii] Ihre Autoren dokumentieren darin „einen ausgewogenen Pluralismus, der eine erstaunliche Diversität von Orientierungen anzeigt.“ (S. 46). Die Ergebnisse der Pincus-Studie zeigen, dass sich eine Minderheit von 13,2 Prozent der Befragten als orthodox oder ultraorthodox bezeichnet, 22,3 Prozent dem liberalen Judentum verbunden sind und sich 32,2 Prozent als traditionell jüdisch, aber nicht religiös gebunden definieren. 32,3 Prozent der Befragten bezeichneten sich als säkular (S. 46). Die meisten Juden und Jüdinnen in Deutschland haben somit keinen Bezug zum orthodoxen Judentum, sind aber umgekehrt in ihrer Mehrheit auch nicht entschieden säkular.
Die Ausdifferenzierung jüdischen Lebens setzt sich fort, in Deutschland und weltweit. Das Handbuch der Religionen bietet die Möglichkeit, das Judentum in seiner ganzen Vielfalt darzustellen, wofür wir den Herausgebern und der Redaktion ausdrücklich danken. Unser Dank gilt zudem den anderen Autor:Innen und den Gutachtenden dieser Einzellieferung, auf die bald weitere Beiträge zu aktuellen jüdischen Fragen folgen werden.
Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka
Hartmut Bomhoff M.A.
(Gastherausgeber und Facheditoren)
[i] Vgl. Walter Homolka, „Leo Baeck”, in: NDB-online, https://www.deutsche-biographie.de/dbo006301.html
[ii] Eliezer Ben-Rafael / Yitzhak Sternberg / Olaf Glöckner, Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland. Eine empirische Studie im Auftrag des L. A. Pincus Fund for Jewish Education in the Diaspora, Jerusalem 2010.