Die Beziehung zwischen evangelikalen Christen und der politischen Rechten ist ein Thema, das sowohl in Deutschland als auch in den USA kontrovers diskutiert wird. Während viele die Gefahren einer solchen Zusammenarbeit sehen, plädieren Christiane Königstedt und Marcus Moberg in ihrem Artikel des Handbuchs der Religionen für eine differenzierte Betrachtung dieser Kooperationen. Der folgende Blogbeitrag fasst die wesentlichen Punkte ihres Artikels zusammen und bietet einen Einblick in die historischen Entwicklungen und aktuellen Dynamiken dieser Beziehung.
Zentrale doktrinäre Merkmale des Evangelikalismus
Der Evangelikalismus ist eine spezielle Form des protestantischen Christentums, die sich vor allem in den USA zu einer großen religiösen, kulturellen und politischen Kraft entwickelt hat. Diese Bewegung betont die wörtliche Interpretation der Bibel, die persönliche Bekehrung und das missionarische Engagement. Prominente Vertreter wie Billy Graham haben den Evangelikalismus maßgeblich geprägt und ihn zu einer starken politischen Kraft gemacht.
Evangelikale Christen zeichnen sich durch vier zentrale Merkmale aus: Biblizismus, Konversionismus, Kruzizentrismus und Aktivismus. Sie betrachten die Bibel als unfehlbares Wort Gottes und betonen die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung. Die Kreuzigung Christi nimmt eine zentrale Rolle in ihrem Glauben ein, und sie engagieren sich aktiv in sozialen und politischen Bewegungen, um christliche Werte in der Gesellschaft zu verbreiten.
Evangelikale und die politische Rechte in den USA
Seit den 1950er-Jahren wird die politische Rechte in den USA als „radikale Rechte“ bezeichnet. Diese Bewegung umfasst Gruppen, die extreme konservative Ansichten vertreten und sich vehement gegen Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus und Progressivismus stellen. Prominente Strömungen innerhalb dieser Bewegung beinhalten Ethno-Nationalismus, anti-islamische Gefühle und verschiedene Verschwörungstheorien. Eine bedeutende Rolle spielt hierbei die sogenannte Alt-Right, die in den letzten Jahren besonders durch ihre Unterstützung für Donald Trump in den Vordergrund trat.
Die enge Verbindung zwischen Evangelikalen und der politischen Rechten in den USA wurde besonders durch die Gründung der „Moral Majority“ im Jahr 1979 unter der Leitung des fundamentalistischen Baptistenpredigers Jerry Falwell sichtbar. Diese Bewegung zielte darauf ab, christliche Werte durch politische Einflussnahme zu stärken und konservative Anliegen wie den Schutz der traditionellen Familie, den Widerstand gegen Abtreibung und die Verteidigung gegen die wahrgenommene Erosion traditioneller Sitten zu fördern. Die „Moral Majority“ war eng mit der Republikanischen Partei verbunden und spielte eine entscheidende Rolle bei den Wahlerfolgen von Ronald Reagan in den 1980er Jahren. Reagan konnte sich auf die Unterstützung dieser Bewegung verlassen, die konservative Christen mobilisierte und ihre Stimmen sicherte.
Die Zusammenarbeit zwischen Evangelikalen und der politischen Rechten hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt und gefestigt. Besonders hervorzuheben ist die Präsidentschaft von George W. Bush, der bei den Wahlen 2000 und 2004 einen signifikanten Anteil der weißen evangelikalen Stimmen erhielt. Bush wurde von vielen Evangelikalen als Verteidiger christlicher Werte angesehen, und seine Politik, einschließlich seiner Positionen zu Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe, fand großen Anklang in dieser Wählergruppe.
Mit der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 erreichte die Verbindung zwischen Evangelikalen und der politischen Rechten einen neuen Höhepunkt. Trump, obwohl selbst kein typischer Vertreter evangelikaler Werte, schaffte es, die Unterstützung dieser Gruppe zu gewinnen, indem er sich stark für ihre politischen Anliegen einsetzte. Er versprach, konservative Richter an den Obersten Gerichtshof zu berufen, die Pro-Life-Bewegung zu unterstützen und religiöse Freiheiten zu verteidigen. Besonders bemerkenswert war seine Einrichtung eines „Evangelical Executive Advisory Board“, bestehend aus 25 prominenten konservativen evangelikalen Führern. Dieses Gremium hatte direkten Zugang zum Präsidenten und spielte eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung seiner politischen Agenda.
Trumps Wahlkampf und Präsidentschaft waren auch durch seine Rhetorik gegen Einwanderung und seine harte Haltung gegenüber muslimischen Ländern gekennzeichnet. Laut einer Umfrage des Pew Research Centers aus dem Jahr 2017 unterstützten 76 Prozent der weißen Evangelikalen Trumps umstrittenes Einreiseverbot für Menschen aus überwiegend muslimischen Ländern. Diese Unterstützung zeigt, wie tief verwurzelt fremdenfeindliche und antimuslimische Einstellungen in dieser Wählergruppe sind.
Die Verbindung zwischen weißen Evangelikalen und der Alt-Right wurde besonders deutlich durch Trumps ambivalente Reaktionen auf Ereignisse wie die „Unite the Right“-Kundgebung in Charlottesville im Jahr 2017, bei der er es versäumte, die rechtsextremen Demonstranten klar zu verurteilen. Auch seine Unterstützung für den umstrittenen Kandidaten Roy Moore bei der Senatswahl in Alabama im selben Jahr unterstrich diese problematische Allianz. Moore, der wegen seiner extrem konservativen Ansichten und seiner Verwicklung in sexuelle Belästigungsvorwürfe in der Kritik stand, erhielt dennoch Trumps Unterstützung, was von vielen als Zeichen für die unkritische Loyalität der Evangelikalen gegenüber der politischen Rechten interpretiert wurde.
Diese Dynamik zeigt, dass die Verbindung zwischen Evangelikalen und der politischen Rechten in den USA nicht nur auf gemeinsamen Werten, sondern auch auf politischem Kalkül und gegenseitiger Unterstützung beruht. Während Evangelikale ihre politische Macht nutzen, um konservative Werte durchzusetzen, profitieren Politiker wie Trump von einer treuen und mobilisierbaren Wählerbasis. Diese gegenseitige Abhängigkeit hat die evangelikale Bewegung zu einer der einflussreichsten politischen Kräfte in den USA gemacht.
Evangelikale und die „Neue Rechte“ in Deutschland
In Deutschland ist die Beziehung zwischen Evangelikalen und der politischen Rechten weniger ausgeprägt als in den USA. Gruppen wie die Deutsche Evangelische Allianz und die Vereinigung Evangelischer Freikirchen engagieren sich vor allem in sozialen Themen und vertreten wertkonservative Positionen. Dennoch gibt es auch hier Beispiele für Kooperationen zwischen evangelikalen und rechten Gruppen, wie etwa beim „Marsch für das Leben“ oder der „Demo für alle“.
Fallbeispiele für Kooperationen in Deutschland
Der „Marsch für das Leben“
Der „Marsch für das Leben“ ist eine jährlich stattfindende Demonstration in Deutschland, die sich für den Schutz des Lebens vom Moment der Zeugung bis zum natürlichen Tod einsetzt. Organisiert wird dieser Marsch vom Bundesverband Lebensrecht (BVL), einem Zusammenschluss verschiedener Lebensrechtsorganisationen. Der BVL zielt darauf ab, jegliche Formen von Abtreibung und Sterbehilfe zu bekämpfen. Die Veranstaltung zieht jedes Jahr Tausende von Teilnehmern aus ganz Deutschland an und findet üblicherweise vor dem Reichstag in Berlin statt.
Die Teilnehmer des Marsches kommen aus einem breiten Spektrum konservativer und religiöser Gruppen, darunter katholische, evangelische und evangelikale Organisationen. Zu den unterstützenden Gruppen gehören unter anderem die „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA), die „Ärzte für das Leben“, die „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) und der Landesverband Berlin. Diese Gruppen teilen gemeinsame Werte in Bezug auf den Schutz des Lebens und den Erhalt der traditionellen Familie.
Ein bemerkenswerter Aspekt des „Marsch für das Leben“ ist die Unterstützung durch politische Akteure aus der rechten Szene, einschließlich der AfD. Beatrice von Storch, eine prominente AfD-Politikerin, und ihr Kampagnen-Netzwerk „Zivile Koalition“ zählen zu den Unterstützern des Marsches. Diese Zusammenarbeit zeigt, wie politische und religiöse Gruppen gemeinsame Interessen finden können, auch wenn ihre zugrunde liegenden Weltanschauungen unterschiedlich sind. Die säkularen rechten Gruppen sehen den Fortbestand des deutschen Volkes als zentralen Punkt, während die religiösen Gruppen den Wert des Lebens aus einer göttlichen Perspektive betrachten.
Die Berichterstattung über den „Marsch für das Leben“ in rechten Publikationen wie der „Jungen Freiheit“ ist in der Regel wohlwollend und kritisch gegenüber den Gegendemonstranten. Diese Gegendemonstranten kommen oft aus feministischen, linken und LGBTQ+-Kreisen und werfen den Teilnehmern des Marsches vor, die Rechte von Frauen und Minderheiten einzuschränken.
Trotz der thematischen Überschneidungen bleiben die Kooperationen zwischen religiösen und säkularen rechten Gruppen eher lose und auf spezifische Themen beschränkt. Die umfassenden Geltungsansprüche der jeweiligen Weltbilder verhindern eine dauerhafte Fusion der Gruppen. Dies zeigt sich auch daran, dass die Evangelische Allianz (EA) und andere offizielle religiöse Organisationen oft auf Distanz zu politischen Akteuren wie der AfD gehen.
Heidi Mund und PEGIDA
Ein weiteres Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen evangelikalen und rechten Gruppen ist der Fall von Heidi Mund. Sie und ihr Ehemann Mathias Mund sind tief im evangelikalen Milieu verwurzelt, fanden jedoch ihre eigene Gemeinde nicht radikal genug und gründeten die Bewegung „Himmel über Frankfurt“. Diese Bewegung zielt darauf ab, Frankfurt mit dem Wort Gottes zu erfüllen und eine spirituelle Erneuerung herbeizuführen.
Heidi Mund ist jedoch nicht nur in der evangelikalen Szene aktiv, sondern auch eine prominente Figur in der rechtspopulistischen Bewegung PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Sie organisiert PEGIDA-Demonstrationen in Frankfurt und trat auch bei Veranstaltungen von Hooligans gegen Salafisten (HOGESA) auf. Ihre Aktivitäten führten zu einer deutlichen Distanzierung der Evangelischen Allianz, die ihre extremen Ansichten und Methoden nicht unterstützt.
Im Februar 2015 wurde Heidi Mund wegen Volksverhetzung angeklagt, nachdem sie auf einer PEGIDA-Demonstration islamfeindliche Äußerungen gemacht hatte. Die Anklage wurde jedoch fallengelassen. Dieser Fall zeigt, wie einzelne Akteure aus dem evangelikalen Milieu sich in rechtspopulistischen Bewegungen engagieren und dort eine Plattform finden können.
Die Evangelische Allianz distanziert sich von solchen Akteuren, um ihre eigenen Glaubensgrundsätze und ihre Distanz zu extremen politischen Positionen zu wahren. Dies unterstreicht die Spannungen und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen evangelikalen Christen und politischen rechten Gruppen in Deutschland. Während es thematische Überschneidungen gibt, bleiben die Bewegungen aufgrund ihrer unterschiedlichen grundlegenden Ziele und Weltanschauungen oft getrennt.
Fazit
Die Beziehung zwischen Evangelikalen und der politischen Rechten ist komplex und vielschichtig. Die Beispiele des „Marsch für das Leben“ und Heidi Munds Engagement in PEGIDA zeigen, wie evangelikale und rechte Gruppen in Deutschland auf spezifischen Themenfeldern kooperieren können. Diese Zusammenarbeit bleibt jedoch meist punktuell und ist durch die unterschiedlichen umfassenden Ansprüche der jeweiligen Weltbilder begrenzt. Die evangelikale Bewegung in Deutschland strebt nach wie vor danach, ihre religiösen Überzeugungen unabhängig von extremen politischen Positionen zu vertreten, während gleichzeitig ihre politischen Allianzen sorgfältig abgewogen werden.
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