Die Evolution von Religiosität: Ein Blick auf die neue Dynamik der religionsbiologischen Forschung

Evolution von Religiosität

Die Frage, warum Menschen Religionen entwickeln und wie diese in der menschlichen Geschichte entstanden sind, fasziniert Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Mit dem Aufkommen der Evolutionsbiologie hat die Forschung zu Religiosität und Religionen eine neue, dynamische Richtung eingeschlagen. Dieser Blogbeitrag beleuchtet die wesentlichen Erkenntnisse und Entwicklungen dieser spannenden Forschungsrichtung, wobei auch die Rolle des Neandertalers und seine mögliche Religiosität sowie die kognitions- und neurowissenschaftlichen Ansätze betrachtet werden.

Ursprünge und Aufstieg der Religionsbiologie

Die Erforschung der Evolution von menschlichem Verhalten umfasst seit langem Bereiche wie Sprache und Musik, wobei die biologischen Grundlagen wie Kehlkopf, Ohr und Gehirnregionen analysiert werden. Im Bereich der Religionsforschung hat sich ein vergleichbarer Forschungsstand erst in den letzten Jahrzehnten etabliert. Charles Darwin und sein Zeitgenosse Alfred Russell Wallace nahmen bereits biokulturelle Evolutionsprozesse für Religiosität und Religionen an. Darwin widmete in seiner „Abstammung des Menschen“ mehrere Seiten der Evolution religiösen Verhaltens und der Entstehung des Gottesglaubens.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte sich die Religionsbiologie zu einem dynamischen Feld. Dies war zum einen dem gestiegenen Interesse an Religionen infolge politischer Konflikte und der Krise klassischer Säkularisierungstheorien zu verdanken. Richard Dawkins und andere Evolutionsbiologen argumentierten, dass Religiosität selbst einem evolutionären Prozess unterliege und empirisch untersucht werden müsse.

Kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung zu Religiosität

Neurotheologie: Die Verbindung von Hirnforschung und Religiosität

Ein bedeutender Bereich der Religionsbiologie ist die Neurotheologie, die sich mit den neurobiologischen Grundlagen von Religiosität beschäftigt. Erste Forschungen in den 1960er Jahren brachten Religiosität mit Phänomenen wie Schläfenlappenepilepsie und Psychopharmaka in Verbindung. Der Begriff „Neurotheologie“ wurde 1984 geprägt und gewann schnell an Bedeutung. Neurowissenschaftler wie Andrew Newberg untersuchten die Gehirnaktivitäten von meditierenden Buddhisten und Nonnen und fanden Hinweise auf eine „absolute Realität“.

Meditation und Gehirnaktivität

Studien haben gezeigt, dass Meditation signifikante Auswirkungen auf die Struktur und Funktionsweise des Gehirns haben kann. Langjährige Meditierende zeigen erhöhte Gamma-Band-Oszillationen, die auf tiefgreifende neuronale Veränderungen hinweisen. Diese Ergebnisse unterstützen die These, dass das menschliche Gehirn durch seine evolutionäre Entwicklung prädestiniert ist für religiöse Erfahrungen. Bei der Meditation wird oft eine erhöhte Aktivität im präfrontalen Kortex und eine verringerte Aktivität im parietalen Kortex beobachtet, was zu einem Gefühl der Einheit und Transzendenz beitragen kann.

Religiöse Erfahrungen und neuronale Korrelate

Untersuchungen haben gezeigt, dass religiöse Erfahrungen oft mit einer erhöhten Aktivität im präfrontalen Kortex und einer verringerten Aktivität im parietalen Kortex einhergehen. Diese Veränderungen können zu einem Gefühl der Einheit und Transzendenz beitragen, das viele Menschen während spiritueller Praktiken erleben. Forscher wie Vilayanur Ramachandran haben auch gezeigt, dass bestimmte Hirnregionen mit religiösen Erfahrungen korrelieren.

Kognitive Mechanismen und Religion

Ein weiterer Ansatz untersucht, wie kognitive Mechanismen zur Entwicklung religiöser Überzeugungen beitragen. Der Psychologe Justin Barrett prägte den Begriff „hyperactive agency detection device“ (HADD), um die menschliche Tendenz zu beschreiben, überall in der Umwelt Akteure zu erkennen. Diese kognitive Eigenschaft könnte eine evolutionäre Grundlage für den Glauben an übernatürliche Wesen bieten.

Soziologie und Soziobiologie: Religion als soziale Bindungskraft

Emile Durkheim und andere Soziologen haben lange die Rolle der Religion als soziale Bindungskraft untersucht. Studien zeigen, dass religiöse Rituale und Gebote die innergemeinschaftlichen Vertrauensverhältnisse stärken und vor Betrug schützen. Diese Erkenntnisse wurden auch in der Soziobiologie bestätigt, die das Verhalten sozial lebender Tiere erforscht und Parallelen zur menschlichen Religiosität zieht.

Ökonomie und Spieltheorie: Religion im Kontext von Kooperation und Wettbewerb

Ökonomische Ansätze wie die Spieltheorie haben zur Erklärung der religiösen Kooperation beigetragen. Modelle zeigen, dass Religionen als „religiöse Märkte“ fungieren, in denen Wettbewerb und Kooperation Hand in Hand gehen. Diese Ansätze bieten neue Perspektiven auf das vermeintlich irrationale Verhalten des Homo sapiens und die evolutionären Vorteile religiöser Gemeinschaften.

Ethnologie und Ethologie: Parallelen zwischen Mensch und Tier

Die evolutionäre Anthropologie nutzt ethnologische und ethologische Studien, um die Ursprünge der Religiosität zu erforschen. Beobachtungen von Jägern und Sammlern sowie sozial lebenden Tieren liefern wertvolle Einsichten in die biokulturellen Anpassungen, die zur Entstehung von Religionen führten. Vergleiche mit dem Verhalten von Primaten und anderen Tieren tragen zum Verständnis der evolutionären Wurzeln menschlicher Religiosität bei.

Archäologie: Religiöse Artefakte als Spiegel der Evolution

Archäologische Funde spielen eine zentrale Rolle bei der Überprüfung evolutionspsychologischer Hypothesen. Bestattungsrituale und religiöse Artefakte wie Ahnenschädel und Tier-Mensch-Figuren liefern Hinweise auf die frühe Religiosität von Homo sapiens und Homo neanderthalensis. Diese Funde bestätigen die Annahme, dass religiöses Verhalten eine funktionale Rolle in der Evolution spielte.

Der Neandertaler und seine mögliche Religiosität

Für die Frage nach den Wurzeln der menschlichen Religiosität spielen die Befunde des Neandertalers eine wichtige Rolle. Zwischen dem anatomisch modernen Menschen und dem Neandertaler gab es genetischen und vermutlich auch kulturellen Austausch. Die Frage, ob der Homo sapiens seine Religiosität vom Neandertaler übernahm oder umgekehrt, bleibt spannend.

Forschungsgeschichte der Neandertaler

Die ersten Neandertaler-Fossilien wurden 1856 entdeckt, und die Diskussion um ihre Bedeutung prägte die Wissenschaft nachhaltig. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden erste Hinweise auf Bestattungen gefunden, doch die Interpretation dieser Funde änderte sich im Laufe der Zeit. In den 1950er Jahren wurde klar, dass der Neandertaler wahrscheinlich ein komplexes soziales Verhalten und eine fortgeschrittene Technik besaß.

Kognitive Fähigkeiten und Bestattungsrituale

Der Neandertaler verfügte über beeindruckende kognitive Fähigkeiten und technische Fertigkeiten. Er konnte Werkzeuge herstellen und benutzte vermutlich Sprache. Die Bestattungen des Neandertalers, die in verschiedenen Fundorten entdeckt wurden, zeigen, dass er seine Toten bewusst niederlegte. Die Funde von Gräbern, in denen die Toten in bestimmten Positionen und mit Grabbeigaben bestattet wurden, deuten auf eine gewisse Auseinandersetzung mit dem Tod hin.

Shanidar: Ein bedeutender Fund

Ein besonders bemerkenswerter Fund stammt aus der Höhle Shanidar im Nordirak. Hier wurden mehrere Neandertaler bestattet, und die Funde von Pollen über den Gräbern deuten darauf hin, dass die Toten möglicherweise auf Blumen gebettet wurden. Diese Interpretation ist jedoch umstritten, da andere Wissenschaftler argumentieren, dass die Pollen durch natürliche Prozesse in die Höhle gelangt sein könnten.

Demografie und Genderstudien: Religion und Fortpflanzungserfolg

Ein wichtiger Aspekt der Evolutionsforschung ist die Untersuchung des Fortpflanzungserfolgs religiöser Gemeinschaften. Studien zeigen, dass religiöse Menschen im Durchschnitt mehr Kinder haben und dass kinderreiche Gemeinschaften wie die Amischen oder orthodoxe Juden nicht ohne ihren religiösen Glauben erklärbar sind. Auch die Rolle von Geschlechterverhalten und sexueller Selektion in der Evolution der Religiosität wird zunehmend untersucht.

Philosophische und theologische Reaktionen

Die religionsbiologische Forschung hat auch philosophische und theologische Diskussionen angestoßen. Einige religiöse Akteure integrieren evolutionstheoretische Befunde leichter als erwartet in ihr Weltbild. Überraschenderweise stoßen evolutionäre Studien in Teilen des „antitheistischen“ Humanismus auf größere Widerstände, da befürchtet wird, dass diese Forschung die Argumente der Religionskritik schwächt.

Wissenschaftliche Ausblicke: Die Zukunft der Religionsbiologie

Die dynamische Entwicklung der religionsbiologischen Forschung erfordert eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Naturwissenschaftler sind auf die Expertise von Geistes- und Kulturwissenschaftlern angewiesen, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen Biologie und Kultur zu verstehen. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Forschung auf die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Menschenbilder auswirken wird.

Fazit: Ein neues Verständnis von Religiosität und Religionen

Die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen hat in den letzten Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Durch die Integration biologischer, psychologischer, soziologischer und kultureller Perspektiven entsteht ein umfassenderes Bild von den Ursprüngen und Funktionen religiösen Verhaltens. Diese interdisziplinäre Herangehensweise ermöglicht es uns, die tief verwurzelten und vielfältigen Aspekte der menschlichen Religiosität besser zu verstehen.

Die Reise der Erforschung der Religiosität und Religionen ist noch lange nicht beendet. Mit jeder neuen Studie und jedem neuen Fund kommen wir der Antwort auf die Frage näher, warum der Mensch von Natur aus religiös ist und welche Rolle Religionen in unserer Evolution gespielt haben. Die dynamische und spannende Welt der religionsbiologischen Forschung lädt uns ein, weiterhin neugierig und offen für neue Erkenntnisse zu bleiben.

Dieser Blogbeitrag fasst Ergebnisse folgender Originalbeiträge zusammen, die im Handbuch der Religionen erschienen sind:

Blume, Michael: Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen – Die neue Dynamik „religionsbiologischer“ Forschungen. 22. Ergänzungslieferung 2009. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Nolte, Matthias: Der Neandertaler und die Religiosität. 30. Ergänzungslieferung 2011. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Willems, Franziska Merle: Kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung zu Religiosität. 35. Ergänzungslieferung 2013. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Schlagwörter:
Evolution, Religiosität, Religionsbiologie, Kognitionsbiologie, Neurobiologie, Spieltheorie, Neandertaler

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