Die Faszination des Westens für Indien reicht weit in die Geschichte zurück und hat sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt. Diese Faszination, geprägt von Mythen, exotischen Vorstellungen und tiefen Missverständnissen, zeigt, wie unterschiedlich die Kulturen des Westens und Indiens miteinander interagiert haben. Der Weg vom romantisierten Bild des alten Indiens bis hin zu den komplexen, oft problematischen Verstrickungen im 20. Jahrhundert ist ebenso lehrreich wie faszinierend. Ein zentrales Thema dabei ist die Begegnung des Westens mit dem Hinduismus, einer der ältesten und vielfältigsten Religionen der Welt.
Die ersten Begegnungen: Mythen und Märchen
Die ersten Vorstellungen der Europäer über Indien waren von Mythen und Fabelwesen geprägt. Berichte von Schattenfüßlern, Einäugigen und Menschen mit Spinnenbeinen waren weit verbreitet. Diese Erzählungen stammten aus der Antike und wurden über die Jahrhunderte weitergetragen, wie der berühmte „Alexanderroman“ zeigt, der die Eroberungen Alexanders des Großen bis nach Indien beschreibt.
Indien war für die Europäer das Land der Schätze, der Gewürze, des Goldes und der Seide. Es war ein Reich des Reichtums und der mystischen Ekstase, das mit dem Gott Dionysos assoziiert wurde. Doch trotz dieser Faszination blieb das tatsächliche Indien mit seiner reichen religiösen Vielfalt den Europäern weitgehend verborgen. Der Hinduismus, der das religiöse und kulturelle Leben in Indien seit Jahrtausenden prägt, blieb ein geheimnisvolles und oft missverstandenes Thema.
Koloniale Begegnungen und die religiöse Mission
Mit der Ankunft der Portugiesen, insbesondere Vasco da Gamas im Jahr 1498, begann eine neue Ära der Begegnungen. Doch auch diese waren zunächst geprägt von Missverständnissen und einer stark eurozentrischen Sichtweise. Die ersten europäischen Berichte über Indien waren oft widersprüchlich und von der christlichen Mission geprägt.
Die Kolonialmächte Portugal und später England sahen es als ihre Pflicht an, den katholischen Glauben in den neu entdeckten Ländern zu verbreiten. Diese Missionierung verlief parallel zur Kolonialisierung und wurde oft mit Gewalt durchgesetzt. Inder, die nicht bereit waren, sich zum Christentum zu bekehren, wurden als Ketzer betrachtet und verfolgt. Dabei gerieten die Hindu-Praktiken und Überzeugungen zunehmend ins Visier der Missionare. Sie stießen auf eine tief verwurzelte, aber für sie schwer verständliche Religion, die sie oft als heidnisch und abergläubisch abtaten.
Der Hinduismus: Eine Religion der Vielfalt
Hinduismus ist nicht nur eine Religion, sondern ein komplexes kulturelles System, das Philosophie, Ethik, Rituale und soziale Praktiken umfasst. Anders als im Christentum gibt es im Hinduismus keinen Gründer oder ein zentrales Glaubensbekenntnis. Vielmehr ist der Hinduismus eine Sammelbezeichnung für eine Vielzahl von Traditionen, die über Jahrtausende gewachsen sind.
Im Zentrum des Hinduismus stehen Konzepte wie Dharma (das ethische Gesetz), Karma (das Gesetz von Ursache und Wirkung) und Moksha (die Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt). Die Vielfalt der hinduistischen Gottheiten – von Vishnu und Shiva bis hin zu Durga und Saraswati – spiegelt die Vielfalt der Praktiken und Glaubensrichtungen wider. Jeder Hindu kann seinen eigenen spirituellen Weg wählen, sei es durch Bhakti (hingebungsvolle Verehrung), Jnana (Wissen) oder Karma (selbstloses Handeln).
Diese Vielfalt und die Tiefe der hinduistischen Philosophie waren den westlichen Missionaren und Kolonisatoren fremd. Sie betrachteten den Hinduismus oft durch die Linse ihrer eigenen religiösen Überzeugungen, was zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führte. Die komplexen sozialen Strukturen des Kastenwesens, die spirituellen Praktiken wie Yoga und Meditation, und die symbolische Bedeutung der Rituale wurden häufig als Zeichen von Rückständigkeit oder Aberglauben missverstanden.
Romantik und die Entdeckung der indischen Weisheit
Erst im 18. Jahrhundert, mit der Eroberung Indiens durch die Briten und der Gründung der Britischen Ostindien-Kompanie, begann ein tieferes Verständnis für die hinduistische Kultur. Die Begegnungen wurden intensiver, und die Briten begannen, die reiche Literatur und Philosophie Indiens zu entdecken. William Jones, ein britischer Gelehrter, gründete die Asiatic Society of Bengal und trug maßgeblich zur Entdeckung und Verbreitung indischer Schriften im Westen bei. Er erkannte die Bedeutung von Sanskrit und zeigte, dass es eine enge sprachliche Verwandtschaft zwischen dem Sanskrit und den europäischen Sprachen gab.
Die deutsche Romantik war besonders begeistert von der indischen Kultur. Dichter und Philosophen wie Goethe und die Brüder Schlegel sahen in Indien das Ideal einer „heilen Welt“, das dem von der Aufklärung geprägten Europa gegenüberstand. Die Faszination für Indien und insbesondere für den Hinduismus wurde zu einem festen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses der Deutschen.
Indische Texte wie die Bhagavad-Gita oder die Upanishaden wurden ins Deutsche übersetzt und fanden weite Verbreitung. Diese Schriften, die tief in die philosophischen Fragen der Existenz und der Natur des Göttlichen eintauchen, wurden von den Romantikern als eine Quelle der Weisheit und spirituellen Erneuerung gefeiert. Sie sahen im Hinduismus eine Alternative zu den strikten Rationalismen und der materialistischen Weltanschauung, die in Europa vorherrschten.
Indien im 20. Jahrhundert: Zwischen Faszination und Missbrauch
Im 20. Jahrhundert erreichte die Indien-Begeisterung ihren Höhepunkt, als Persönlichkeiten wie Rabindranath Tagore, der erste asiatische Nobelpreisträger, nach Deutschland kamen. Tagore wurde von vielen Deutschen als Verkörperung der indischen Weisheit gefeiert, die in einer Zeit der kulturellen und politischen Krise Trost spenden sollte. Tagores Vision eines harmonischen, spirituell gelebten Lebens fand in einer krisengeschüttelten Gesellschaft großen Anklang.
Doch die Begeisterung für Indien war nicht immer nur positiv. Ein besonders dunkles Kapitel in der Begegnung des Westens mit dem Hinduismus ist die Zeit des Nationalsozialismus. Die Nazis, insbesondere Heinrich Himmler, missbrauchten hinduistische Symbole und Philosophien, um ihre Ideologien zu untermauern. Das Swastika, im Hinduismus ein Symbol für Wohlstand und Glück, wurde zum verhassten Symbol des Nazi-Regimes. Himmler sah in der Bhagavad-Gita eine Rechtfertigung für den Krieg und betrachtete Adolf Hitler als eine Inkarnation des göttlichen Willens.
Diese Vereinnahmung hinduistischer Symbole und Lehren für eine rassistische und gewaltverherrlichende Ideologie hat das Bild des Hinduismus in der westlichen Welt nachhaltig beschädigt. Es zeigt, wie leicht religiöse Texte und Symbole aus ihrem Kontext gerissen und für politische Zwecke missbraucht werden können.
Ein komplexes Erbe
Die Begegnungsgeschichte des Westens mit Indien und dem Hinduismus ist ein komplexes Erbe, das von Bewunderung, Missverständnissen und Missbrauch geprägt ist. Während die Romantiker in Indien eine ideale Welt sahen, missbrauchten die Nationalsozialisten hinduistische Symbole für ihre menschenverachtende Ideologie.
Heute, im 21. Jahrhundert, ist es wichtiger denn je, diese Geschichte kritisch zu reflektieren und die kulturellen Missverständnisse zu überwinden. Der Hinduismus als eine der ältesten und vielfältigsten Religionen der Welt hat dem Westen viele wertvolle spirituelle und philosophische Einsichten gebracht. Es ist an der Zeit, diese Begegnungen mit einem neuen, aufgeklärten Verständnis zu betrachten, das auf Respekt und echtem Dialog beruht.
Durch das Studium und die Wertschätzung des Hinduismus können wir nicht nur unsere eigenen kulturellen Horizonte erweitern, sondern auch einen echten interkulturellen Dialog fördern, der auf gegenseitigem Verständnis und Respekt basiert.
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