Interview Persönlichkeit

Interview Persönlichkeit

Die spannende Welt der Charaktertypologien

12.01.2022

In seinem Buch „WIR – DU – ICH“ führt Dirk Rottmann die Leserschaft in die spannende Welt der Charaktertypologien. Die exzellente Beobachtungsgabe des innovativen Beraters, Therapeuten und Supervisors macht die Strickmuster unserer unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen sicht- und vor allem nahbar. Im folgenden Interview erläutert Dirk Rottmann sein System der Persönlichkeitscharakterisierung.

Es gibt ja verschiedene Ansätze, Persönlichkeitstypen einzuordnen. Klassiker sind etwa das Big-Five-Modell, die Methode nach Myers-Briggs oder das System von Oldham & Morris. Herr Rottmann, in Ihrem Buch entwerfen Sie ein eigenes Modell der Persönlichkeitscharakterisierung. Was hat Sie dazu veranlasst und worin unterscheidet sich Ihre Herangehensweise von bereits existierenden Modellen?

ROTTMANN: Es war der Pädagoge, Psychologe und Philosoph Dietmar Friedmann, der mich mit seinem Buch „Denken. Fühlen. Handeln“ der Thematik entscheidend näherbrachte, dass wir Menschen uns trotz aller Individualität in einer Art Struktur unterschiedlicher Persönlichkeitstypologien wiederfinden.
Friedmann sprach von sogenannten Handlungs-, Sach- und Beziehungstypen. Begrifflichkeiten, die ich in meinen Überlegungen erst einmal so übernahm, bevor ich dann die Bezeichnungen Pragmatiker, Theoretiker und Romantiker kreierte, um sie im Weiteren in die neun Strukturen:

  • Dominanz-Pragmatiker,
  • Sozial-Romantiker,
  • Erkenntnis-Theoretiker,
  • Rechts-Pragmatiker,
  • Beziehungs-Romantiker,
  • Projekt-Theoretiker,
  • Ausgleichs-Pragmatiker,
  • Gestaltungs-Romantiker und
  • Moral-Theoretiker

noch weiter auszudifferenzieren. Die Neunheit unterschiedlicher Herangehensweisen an die Anforderungen des Lebens hat eine lange Geschichte und beschäftigt die Menschheit schon ungefähr seit dem 14. Jahrhundert. Sie wurde damals als Enneagramm bezeichnet, weil Ennea das griechische Wort für neun ist. Der Kaukasier Georg Iwanowitsch Gurdjieff beschäftigte sich maßgeblich mit den philosophischen Ableitungen dieser Neunheit.
Meine wichtigsten Inspirationsgeber im Kontext der Persönlichkeitstypologie waren neben Friedmann, Wilhelm Reich, Claudio Naranjo, Wilfried Reifarth und Juan José Albert Gutiérrez.

Das besondere an meiner Herangehensweise ist, dass ich die wertvollen Erkenntnisse von Fritz Riemann in „Grundformen der Angst“ aufgegriffen sowie modifiziert und mit den Ausarbeitungen der oben aufgeführten Protagonisten (einschließlich Gabriela von Witzleben) sowie meiner eigenen Studien in Verbindung gebracht habe, um im Weiteren aus dem systemischen Blickwinkel hilfreiche Lösungen anzubieten. Diese Verbindung und Ausdifferenzierung einschließlich meiner Namensgebung(en) ist neu. Daher dieser Aufbau in meinem Buch: Die Überzeugungen (ab S. 58) führen zu den spezifischen Ängsten bezüglich des Selbst (ab S. 62) und lassen so die unterschiedlichen Überlebensstrategien (ab S. 72) gedeihen. Diese Überlebensstrategien (Selbst-Verhaftung, Selbst-Entfremdung etc.) verbinden sich dann mit der jeweiligen Ich-, Du- bzw. Wir-Orientierung. Deswegen heißt das Buch „WIR – DU – ICH“!

Ihrer Erfahrung zufolge sind Menschen entweder Wir-, Du- oder Ich-orientiert. Sie ordnen diesen Orientierungen die grundlegenden Persönlichkeitstypen „Pragmatiker“, „Romantiker“ und „Theoretiker“ zu. An welchen typischen Verhaltensweisen sind diese Ausprägungen erkennbar und kennen Sie dafür prominente Beispiele?

ROTTMANN: Die Romantiker sind impulsgesteuerter, extrovertierter, gegenwartsorientierter und inszenierter. Oftmals handeln sie, bevor sie nachdenken. Sie sind emotional, hitzig, streitbar, spontan, warmherzig, fürsorglich, aber oftmals auch sehr angriffslustig.

Als Beispiele sehe ich dafür: Uli Hoeneß, Joschka Fischer, Donald Trump (Gestaltungs-Romantiker), Campino (Sozial-Romantiker).

Viele Schauspieler*innen (z.B. Lars Eidinger) sind Beziehungs-Romantiker.

Weitere Personen sehe ich als Romantiker: Claudia Roth, Udo Lindenberg, Klaus Kinski, Iris Berben, Ben Becker und seine Schwester, Barbara Schöneberger, Sarah Connor, Willy Brandt, Norbert Blüm.

Die Pragmatiker sind zielorientiert, handlungsstark, pragmatisch, effizienzorientiert, strukturiert, rational-nüchtern und eloquent. Als Beispiele aus dem konkreten Leben sehe ich: Armin Laschet (Ausgleichs-Pragmatiker), Markus Söder (Dominanz-Pragmatiker), Friedrich Merz (Rechts-Pragmatiker).

Weitere Personen sehe ich als Pragmatiker: Markus Lanz, Maria Furtwängler, Judith Raker, Frank-Walter Steinmeier, Reinhold Beckmann.

Die Theoretiker sind introvertiert, manchmal phlegmatisch, vergangenheitsverbunden, erkenntnisorientiert, analytisch, vorsichtig, spröde, manchmal hölzern, manchmal weise, unaufgeregt und reflektiert. Auch hier kann ich Beispiele nennen: Karl Lauterbach (Moral-Theoretiker), Wiglaf Droste (Erkenntnis-Theoretiker), Richard David Precht (Projekt-Theoretiker).

Weitere Personen sehe ich als Theoretiker: Sahra Wagenknecht, Angela Merkel, Günther Jauch, Peter Handke, Albert Einstein, Olaf Scholz.

Sie unterteilen die Pragmatiker, Romantiker und Theoretiker in weitere Subtypen, sodass Sie auf insgesamt neun verschiedene Charaktertypen kommen. Genügt diese Klassifizierung, um jeden Menschen exakt charakterisieren zu können oder vereint jeder Mensch Merkmale unterschiedlicher Persönlichkeitstypen in sich?

ROTTMANN: Es gibt eine Besonderheit: Bei dem Moral-Theoretiker gibt es eine defensive und eine offensive (z. B. Adolf Hitler) Variante.

Ansonsten gibt es diese neun Ausdifferenzierungen, die allerdings im Alter, im Geschlecht und bezüglich des jeweiligen Kontextes unterschiedliche Gestalt annehmen. Zudem gibt es Menschen, die sehr eindeutig in ihren Überlebensstrategien agieren (dann fällt die Zuordnung leicht) und Menschen, die in ihrer Persönlichkeit sehr weit entwickelt sind (dann ist ihre Persönlichkeitsstruktur nicht so auffällig).

Die Romantiker sind mehr von der Herzenergie beeinflusst, die Pragmatiker von der Bauchenergie und die Theoretiker von der Kopfenergie. Je mehr ein Mensch in der Lage ist, all diese Ressourcen hilfreich anzusteuern, desto weniger ist er als Persönlichkeitsstruktur herausstechend. Besonders gut kann man die speziellen Eigenarten der Persönlichkeitsstrukturen in Konflikten erkennen.

Die Ausdifferenzierung kann sehr schwer fallen, wenn man kein geschultes Gespür dafür entwickelt hat. So könnte man auch Donald Trump für einen Dominanz-Pragmatiker halten, Karl Lauterbach oder Uli Hoeneß für einen Pragmatiker. Bei Robert Habeck bin ich mir z. B. selbst nicht ganz sicher, ob er ein Pragmatiker oder ein Romantiker ist (ich tippe aber auf „Pragmatiker“). Grundsätzlich sind „Ferndiagnosen“ natürlich sowieso immer gefährlich. Das mache ich eigentlich auch nur dann, zumindest bezüglich der Subtypen, wenn es eindeutig ist. Bei Bob Dylan bin ich mir z. B. auch nicht sicher, ob er ein Moral-Theoretiker oder ein Beziehungs-Romantiker ist. Bei beiden spielt die Kopfenergie eine Rolle (vergleiche Kapitel 8, 9, 10).

Viele Persönlichkeitstests zielen auf die Eignung für bestimmte Berufe ab und werden daher auch von Personalleitern eingesetzt. Lässt sich aus Ihrer Charaktertypisierung ebenfalls ableiten, wer für welche Berufe besonders prädestiniert ist?

ROTTMANN: Grundsätzlich ja. Viele Virologen sind Theoretiker. Viele Menschen in helfenden Berufen sind Romantiker. Viele Schauspieler sind Romantiker. Viele Regisseure oder Literaten dagegen Theoretiker. In der Politik dominieren die Pragmatiker. Wo Verlässlichkeit, konventionelles Handeln und Struktur gefragt ist, sind Pragmatiker geeignet. Wo Zuwendung, Spontanität und Hingabe elementar ist, sind Romantiker gefragt. Wenn Räume zum Denken und zur Ausdifferenzierung gegeben sind, die substanziell mit Erkenntnissen gefüllt werden sollten, sind die Theoretiker zu favorisieren.

Eine besonders wichtige Rolle spielt der Persönlichkeitstyp doch sicherlich in der Partnerschaft. Gibt es Typen, die besonders gut miteinander harmonieren und welche, die wie Feuer und Wasser sind?

ROTTMANN: Das ist natürlich ein ganz spezielles Thema. Höchstwahrscheinlich wird mein nächstes Buch das ausdifferenzieren. Zehn Seiten habe ich bereits geschrieben. Ein buchfüllendes Thema kurz zu erläutern, fällt natürlich schwer: Naturgemäß harmonieren die Pragmatiker gut mit Pragmatikern, die Romantiker oberflächlich auch gut mit Romantikern (sollte es Konflikte geben, sieht das dann schon ganz anders aus) und die Theoretiker mit anderen Theoretikern, da die Menschen sich in solchen Systemen halt gut in den Anderen hineinversetzen können. Das Ding ist jedoch, dass wir in der Moderne die Beziehungen nach Liebe ausrichten. Und das führt halt dazu, dass wir uns unbewusst in unsere ungelebten Sehnsüchte verlieben, deren Erfüllung wir uns beim Anderen erhoffen. Das führt dann dazu, dass es in der Praxis eher selten vorkommt, dass sich Menschen zusammentun, die die die gleiche Persönlichkeitsstruktur haben.

Besonders toxisch kann es immer dann werden, wenn „überhitzte“ Romantiker aufgrund von Zurückweisungsängsten in die Offensive gehen und es dann mit den Partner*innen zu einer Anklägerdebatte und/oder zu Machtgerangel kommt. Von den Theoretikern fühlen sie sich oft nicht ausreichend gesehen oder gewürdigt, weil diese im Rahmen ihrer Ich-Orientierung nicht diese „Du-Zugewandtheit“ kennen, die für die Romantiker an der Tagesordnung ist. Oftmals sind die Pragmatiker die Unkompliziertesten in Beziehungen. Es sei denn, man geht mit ihnen zu stark in Territoriumskämpfe. Insbesondere Partner*innen der Dominanz-Pragmatiker sind gut beraten, nicht in bauchenergetische Auseinandersetzungen mit den Dominanz-Pragmatikern zu gehen, da diese eben – wie der Name schon anklingen lässt – die Dominanz benötigen. Bei den Gestaltungs-Romantikern verhält es sich ähnlich, da auch diese eine ausgeprägte Bauchenergie haben.

Es gibt eigentlich keine meiner Paarberatungen, in denen die Protagonisten nicht erstaunt darüber sind, wie relativ leicht sich ihr unterschiedliches In-der-Welt-Sein erklären lässt. So wächst Verständnis sowie Vertrauen und Empathie ist wieder möglicher.

Ist unsere Persönlichkeit Schicksal? Sind wir also genetisch zu einem bestimmten Charaktertypus verdammt oder können wir daran arbeiten und uns entwickeln? Falls ja, welche Empfehlungen können Sie geben, sowohl was das Verändern negativer Eigenschaften oder Gewohnheiten angeht als auch was das positive Ausschöpfen der eigenen Stärken betrifft?

ROTTMANN: Letztendlich ist das eine zentrale Botschaft meines Buches. Der Charaktertypus ist sicherlich auch genbestimmt, wird aber zudem durch die systemische Konstellation im Rahmen seiner entwicklungspsychologischen Dynamik (siehe: „Das Thema hinter dem Thema – die systemische Ausgangssituation“ bei allen Persönlichkeitsstrukturen in Kapitel 9) herausgebildet. Meine konzeptionelle Grundidee ist es, in Kapitel 9 das „Werden“ und die „Ausgestaltung“ der jeweiligen Persönlichkeitsstrukturen zu skizieren. Im Kapitel 10 finde ich dann – mit Hilfe der Fußballmetapher – fußend auf dem „Inneren Team“ (Friedemann Schulz von Thun) ganz alltagsrelevante Lösungen für die Weiterentwicklung einer jeden Persönlichkeitsstruktur, die dann in der Umformulierung des „Glaubenssatzes“ in einen sogenannten „Erlaubnissatz“ mündet.

Ich verstehe meine Ausarbeitung der Persönlichkeitsstrukturen als eine Art „Gebrauchsanweisung“. Je besser ich diese kenne, desto besser kann ich Verhaltensweisen modifizieren. Getreu dem Motto: Stärken stärken – Schwächen schwächen. Dafür gibt es in Kapitel 10 und Kapitel 12 ganz konkrete Lösungsvorschläge.

Herr Rottmann, herzlichen Dank für das Interview!

Dirk Rottmann, Jahrgang 1966, ist Dipl. Sozialpädagoge, Systemischer Supervisor und Familien- und Sozialtherapeut mit Fachrichtung Ressourcen- und Lösungsorientierung. Seit 2002 bietet er Lehraufträge an der Fachhochschule Bielefeld sowie Fort- und Weiterbildungen für das Ifobs, den Paritätischen Wohlfahrtsverband und die Volkshochschulen der Kreise Minden-Lübbecke und Herford zur Beratungs- und Selbstentwicklungskompetenz an.

Energiezentrum Buch

Dirk Rottmann – WIR DU ICH

Persönlichkeitsstrukturen erkennen, verstehen und ausbalancieren

  • ISBN: 978-3-86617-186-2
  • Softcover, mit Klappen, Paperback
  • 1. Auflage von 2021
  • 39,95€

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