Die Vernachlässigung des Akustischen in der Religionswissenschaft
Die Religionswissenschaft hat sich lange auf textorientierte Studien konzentriert, insbesondere im Hinblick auf historische Religionen. Dieser Fokus hat dazu geführt, dass andere wichtige Aspekte, wie Räume, Gewänder, Geräte, Bilder, Skulpturen und sogar neuere Medienformen wie Fotografie, Film, Fernsehen und Online-Medien, lange Zeit als sekundäre Quellen galten.
In unserer heutigen Welt ist das Visuelle allgegenwärtig. Es dominiert nicht nur unsere alltägliche Wahrnehmung, sondern auch den Großteil wissenschaftlicher Forschungen. Diese starke Betonung des Optischen hat dazu geführt, dass die auditive Seite der Religionen – das Hören und Gehörtwerden – oft an den Rand gedrängt wurde.
Der Bedarf eines „auditiven turns“
Analog zur „visible religion“ ist es nun an der Zeit, über das Programm einer auditiven, akustischen, sonischen Religion nachzudenken, vielleicht sogar einen „auditiven turn“ in Gang zu bringen. Dieser turn impliziert keine fundamentale, revolutionäre Umorientierung der Religionswissenschaft, sondern vielmehr die Entwicklung einer auf Neuartiges gelenkten Aufmerksamkeit.
Die Bedeutung des Schalls in der Religion
Schall, Klang, Ton, Musik, Geräusche – zusammenfassend als „Sonisches“ bezeichnet – sind ständige Begleiter unserer sinnlichen Umwelt und ihrer Wahrnehmung. Sie charakterisieren auch die religiöse Wahrnehmung von Raum und Zeit. Die Religionswelt ist eine multisensuelle, insbesondere sonische Welt. Um sich den Religionen hörend, lauschend, horchend zu nähern und sie als sonische Welten wahrzunehmen, reicht es nicht aus, Klangphänomene nur nebenher zu thematisieren. Ein besonderes Interesse besteht an der sonischen Seite der großen Religionstraditionen, insbesondere Indiens, des alten Nahen Ostens und der biblischen Religionen.
„Heilige Räume“ und ihre auditive Wahrnehmung
Wir nehmen Räume nicht nur visuell, sondern auch kinästhetisch – durch unsere Bewegungen – und auditiv wahr. Klangphänomene und ihre auditive Wahrnehmung geschehen generell in Räumen. Diese Raumakustik beeinflusst unsere Wahrnehmung und Erfahrung von Heiligkeit und Spiritualität. Unterschieden werden können städtische und ländliche Räume sowie öffentliche Plätze, Höfe, Wege und Straßen, die alle unterschiedliche akustische Eigenschaften haben.
Ein interessantes Beispiel ist die Betrachtung von „Heiligen Räumen“ in verschiedenen Religionen. Tempel, Synagogen, Kirchen, Moscheen und andere religiöse Gebäude haben jeweils ihre eigene, unverwechselbare auditive Atmosphäre, die von der Beschaffenheit des Raums abhängt – sei es die Größe, Form, Lage der Schallquellen oder die verwendeten Baumaterialien.
Neue Perspektiven und Herausforderungen
Neue Begriffe wie Sound Culture, Acoustemology, Klanganthropologie sind entstanden, die diese aktuelle Sicht auf das Auditive lenken. Diese Entwicklung führt zu einem „Kräftefeld“ (im Sinne Pierre Bourdieus), in dem viele Turns miteinander um Dominanz konkurrieren, kooperieren und sich durch diverse Strategien gegenseitiger Abgrenzung zu profilieren versuchen.
Fazit
Die Anerkennung der Bedeutung des Akustischen in der Religionswissenschaft ist ein notwendiger Schritt, um ein umfassenderes Bild religiöser Phänomene zu zeichnen. Es fordert uns auf, über die Grenzen des Textuellen und Visuellen hinauszudenken und die Vielfalt sinnlicher Erfahrungen, die Religionen weltweit prägen, zu erfassen und zu verstehen.
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