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In einer Zeit, in der sich traditionelle religiöse Institutionen und Glaubensstrukturen verschieben, entsteht eine neue Form der spirituellen Erkundung – eine, die nicht durch starre Grenzen definiert ist, sondern durch die fließenden Wasser individueller Überzeugungen und Erfahrungen des individuellen Menschen. Der Mensch von heute mag sich von den Dogmen und Doktrinen distanzieren, doch findet er in der Tiefe seines Wesens oft einen ebenso intensiven Durst nach Sinn, Zugehörigkeit und Verständnis. Diese Dinge gehören für manch einen zu den essentiellen Bedingungen geistiger Gesundheit. Genau um diese Verbindung dreht sich der folgende Beitrag und fragt nach der Rolle der Religion in der Psychologie. Damit sollen neue Horizonte des Verständnisses und der Akzeptanz eröffnet werden. In einer Welt, die von tiefen Spaltungen und Unsicherheiten geprägt ist, bietet die Besinnung auf die spirituellen Aspekte des Daseins für viele nicht nur Trost, sondern auch eine psychische Heilung.

Der spirituelle Mensch

Während sich Religionen mit der Zeit wandeln, wandelt sich auch die Art und Weise wie diese gesellschaftlich betrachtet werden. Im Zuge der Säkularisierung scheinen religiöse Weltanschauungen zu schwinden, zugleich verbreiten sich kulturell-religiöse Praktiken, welche sich der „Spiritualität“ zuordnen lassen. Eine individuelle Spiritualität scheint die einstige institutionelle Religiosität zu ersetzen. Dabei lässt sich diese Klassifizierung nicht nur auf einen bestimmten Teil der Menschen anwenden, sondern trifft potentiell auf jeden zu, da alle Menschen gegenüber existenziellen Fragen diese Neigung entwickeln. Dadurch wird „Spiritualität“  zu einer anthropologischen Kategorie. Somit behält das Religiöse auch weiterhin einen Platz in der Gesellschaft und bleibt genauso für die Kultur, der Identitätsbildung und die Gemeinschaft relevant. Gerade bei Fragen des friedlichen Zusammenlebens oder Gedanken an die Endlichkeit des Daseins können religiöse bzw. spirituelle Weltanschauungen Hilfe bei der Bewältigung geben. Religion scheint damit im Menschen veranlagt zu sein. Daher ist es auch naheliegend nach dessen Rolle in der Psychologie zu fragen, um zu sehen welche Zugänge sich in diesem Gebiet ermöglichen.

Die Rolle der Spiritualität in der psychischen Gesundheit

Es mag einem so vorkommen, dass das Thema Religion in der Psychologie unterrepräsentiert ist. Zu einem weil sich kaum Theologinnen und Theologen mit empirischer Religionspsychologie beschäftigen und zum anderen weil Psychotherapeuten und Therapeutinnen in dem Thema nicht so gut vertraut sind. Zusätzlich scheinen bei einigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten eine besonders religionskritische Haltung zu herrschen. Die Psychologie hat damit religiöse und spirituelle Erfahrungen lange vernachlässigt. Diese fehlende Beachtung erlaubte mitunter die Entstehung eines psycho-spirituellen Lebenshilfemarktes, wo nicht selten fragwürdige und gefährliche Hilfestellungen gegeben werden. Das spirituelle Bedürfnis des Menschen kann daher nicht unterschätzt werden. Es ist belegt, dass die Beachtung dieser, das seelische Wohlbefinden fördert. Eine Kultur- und Religionssensibilität in der Psychotherapie wird daher immer nötiger.

Was bedeutet Religions- und Spiritualitätssensibilität?

Auch durch die Zuwanderung von Migrantinnen und Migranten erlangen kultur- und religionssensible Behandlungen eine besondere Relevanz. Religions- und Spiritualitätssensibilität geht über den bloßen Respekt vor unterschiedlichen Glaubensrichtungen hinaus. Es handelt sich um ein tieferes Verständnis und eine echte Wertschätzung für die spirituellen Überzeugungen anderer Menschen, unabhängig davon, ob sie zu einer bestimmten Religion gehören oder ihre Spiritualität auf individuelle Weise ausleben. In einer Welt voller Unterschiede und Diversität ist es unerlässlich, ein Klima der Toleranz und des Verständnisses zu schaffen. Das Ignorieren oder Missachten religiöser und spiritueller Überzeugungen kann zu Konflikten, Missverständnissen und letztendlich zur Isolation von Individuen oder Gruppen führen.

Die Brücke zwischen Glauben und Wissen

Eine Weltanschauung, die sowohl spirituelle als auch säkulare Perspektiven respektiert, kann einen fruchtbaren Boden für Dialog und Verständigung schaffen. Es geht darum, eine Balance zwischen Glauben und Wissenschaft zu finden und beide Ansichten als Teil eines größeren Ganzen zu sehen. Ein gutes Beispiel ist das Thema der Vergebung, das ein großes Thema in vielen religiösen und spirituellen Traditionen spielt. Tatsächlich zeigen Studien, dass die Fähigkeit zu vergeben nicht nur zu innerem Frieden führt, sondern auch positive Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit haben kann. Im psychotherapeutischen Kontext wird Vergebung daher als wichtiger Schritt auf dem Weg zur Heilung angesehen. Dahingehend gibt es zunehmend Bemühungen, spirituelle Praktiken in die psychotherapeutische Arbeit zu integrieren. Von achtsamkeitsbasierten Ansätzen bis hin zu vergebungsbasierten Methoden – die Möglichkeiten sind vielfältig und versprechen einen ganzheitlichen Ansatz zur Förderung der psychischen Gesundheit.

Glauben und Gesundheit

Die spirituelle Suche des Menschen ist so alt wie die Menschheit selbst, doch nie zuvor war sie so vielfältig, so individuell und doch so universell. In unserer modernen, schnelllebigen Welt, in der traditionelle Strukturen und Überzeugungen ständig hinterfragt werden, bietet die Hinwendung zu spirituellen Fragen einen Anker, einen Sinn von Beständigkeit und tiefer Verbindung. Das Verständnis, dass Religion und Spiritualität nicht ausschließlich privaten oder isolierten Bereichen zuzuordnen, sondern tief in den Grundlagen unserer psychischen Gesundheit und unseres sozialen Wohlbefindens verwurzelt sind, ist sehr wichtig. Es fordert uns auf, über unsere eigenen Überzeugungen hinaus zu blicken und die reiche spirituelle Vielfalt, die unser Menschsein ausmacht, zu erkunden und zu würdigen. Indem wir die spirituellen Bedürfnisse in der therapeutischen Praxis anerkennen und respektieren, öffnen wir Türen zu tieferen, heilsameren Begegnungen. Es geht nicht darum, jede Antwort zu kennen oder jede religiöse Praxis zu verstehen, sondern um die Bereitschaft, zuzuhören, zu lernen und Raum für die spirituellen Reisen anderer zu schaffen.

Der vollständige Beitrag ist erschienen im Handbuch der Religionen:

Utsch, Michael: Argumente für eine religions- und spiritualitätssensible Psychologie. 72. Ergänzungslieferung 2022. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2024.

Schlagwörter:
Spiritualität, Religiosität, spirituelle Bedürfnisse, Ressourcen, Coping, Positive Psychologie, Vergebung

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