Mystisches Dreigestirn im Protestantismus des 20. Jahrhunderts
Dag Hammarskjöld (1905‒1961), Dietrich Bonhoeffer (1906‒1945) und Dorothee Sölle (1929‒2003) verbindet die mystische Kontur ihres Glaubens und Denkens. Der ehemalige UNO-Generalsekretär Hammarskjöld wurde erst posthum als Christusmystiker im Verborgenen bekannt. Geprägt durch die Lektüre der mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz und Thomas von Kempen, konnte er in der innerlichen Glaubenserfahrung eine Triebfeder für sein politisches Engagement entdecken: Durch die Vereinigung der Seele mit Gott partizipiert das menschliche Handeln an Gottes Kraft. Maßgeblich durch die „Imitatio Christi“ ist Dietrich Bonhoeffers Mystik geprägt. Mit dessen Rezeption stellt Bonhoeffer in ökumenischer Weite neben die Gemeinschaft der Kirche die persönliche Christusbeziehung. Mystisch geprägte Nachfolge muss auch für ihn gesellschaftliche Konsequenzen haben. Auf dieser Linie bewegt sich ebenfalls die Widerstandsmystik Dorothee Sölles. Mystik als menschliches Existenzial ist demokratisch und politisch. Sölle entwickelt überdies eine Leidensmystik, die dem, was den Menschen auch negativ überwältigend von Gott entgegenkommt, die Sinnlosigkeit nehmen und zu mündigem Handeln bewegen soll.
Eine Mystik der offenen Augen
Alle drei, Hammarskjöld, Bonhoeffer und Sölle, vertraten eine Mystik der offenen Augen. Sie waren überzeugt, dass Leben Dienst am Mitmenschen heißt. Ihr mystisch geprägtes Glaubensverständnis war untrennbar verknüpft mit einer Orientierung am Nächsten, speziell am Rechtlosen, Erniedrigten und Armen. Hierin hatte ihr politisches Engagement seine Ursache und Kraftquelle. Persönlicher Glaube und Weltverantwortung bedingten sich gegenseitig. Alle drei wagten auf ihre Weise, ihre mystischen Erfahrungen mit Gott zu versprachlichen. Sie alle wurden zu Dichtern, indem sie sich dabei geprägter Sprache bedienten – als ob sie sich damit ein Gegengewicht zu ihren überwältigenden Erfahrungen schaffen wollten. Sie waren bereit, von ihren Erfahrungen her neue und anstößige Gedanken über Gott zu denken. Indem sie diese auch zum Ausdruck brachten, waren vor allem Bonhoeffer und Sölle maßgeblich an den theologischen Diskursen nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt.
Über den Autor:
Prof. Dr. Peter Zimmerling, evangelischer Theologe. Apl. Professor der Praktischen Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Unterschiedliche Themenbereiche der Poimenik, Homiletik, Spiritualität und Gemeindeaufbau, Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers, Pietismusforschung; theologische Frauenforschung. Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde christlicher Mystik e. V.