In einer Welt, die sich ständig weiterentwickelt und in der die Erinnerungen an vergangene Schrecken oft zu verblassen drohen, ist es wichtiger denn je, Formen der Gedenkarbeit zu finden, die auch für kommende Generationen relevant bleiben. Eine solche Form des Erinnerns stellt das Kunstprojekt der Stolpersteine dar, das von Gunter Demnig in den 1990er-Jahren initiiert wurde. Diese kleinen, im Boden verlegten Gedenksteine erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus, indem sie deren Namen und Schicksale wieder sichtbar machen. Um dieses Projekt noch zugänglicher und interaktiver zu gestalten, wurde die Stolpersteine-App entwickelt. Diese App ermöglicht es, sich intensiver mit den Geschichten hinter den Steinen auseinanderzusetzen und bietet eine digitale Erweiterung, die besonders im Schulunterricht, insbesondere im Religionsunterricht, wertvolle Dienste leisten kann. Doch wie kann dieses Kunstprojekt sinnvoll in den Schulunterricht integriert werden? Welche Chancen und Herausforderungen bieten sich dabei?
Stolpersteine: Ein Denkmal im Alltag
Die Stolpersteine sind im wahrsten Sinne des Wortes „Stolpersteine“ in unserem Alltag. Sie erinnern an Menschen, die einst in den Häusern lebten, vor denen die Steine verlegt sind – Menschen, die verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Mit über 100.000 Steinen in Deutschland und weiteren europäischen Ländern ist dieses dezentrale Denkmal nicht nur eine Mahnung, sondern auch eine Einladung, innezuhalten und nachzudenken. Es unterscheidet sich von zentralen Gedenkstätten, da es den Menschen im alltäglichen Leben begegnet und so die Geschichte direkt in ihre Lebenswelt integriert.
Kritik und Weiterentwicklung des Projekts
Trotz der breiten Akzeptanz des Projekts gibt es auch kritische Stimmen. Eine der bekanntesten Kritikerinnen ist Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die argumentiert, dass das Gedenken an die Opfer durch das Treten auf die Steine entweiht wird. Auch wird das Projekt für eine gewisse Verzerrung in der Repräsentation der Opfergruppen kritisiert, da Opfergruppen wie politisch Verfolgte oder Menschen, die als „asozial“ galten, weniger vertreten sind.
Diese Kritikpunkte dürfen nicht ignoriert werden, wenn Stolpersteine in (religions)pädagogischen Kontexten verwendet werden. Sie haben jedoch auch zu Weiterentwicklungen innerhalb des Projekts beigetragen, wie etwa den „Sprechenden Stolpersteinen“ oder der Nutzung von Apps, die zusätzliche Informationen bereitstellen und so das Erinnern unterstützen können.
Erinnerungslernen im Religionsunterricht
Im Gegensatz zum Geschichtsunterricht, der sich mit der Analyse historischer Fakten beschäftigt, bietet der Religionsunterricht einen eigenen Zugang zur Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Hier steht weniger die Vermittlung von Fakten im Vordergrund, sondern das gedenkende Erinnern an die Opfer. Diese Form des Erinnerns kann durch biblische Geschichten theologisch fundiert werden, wobei die Erinnerung an die Opfer der Geschichte im Zentrum steht.
Das Erinnern ist nicht nur ein Akt der Rückbesinnung, sondern auch ein Ausdruck universaler Solidarität, der sich an zukünftige Generationen richtet. Es ist ein Akt der Hoffnung, dass Gott den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lässt, und fordert uns auf, die Toten nicht zu vergessen. Dies ist besonders wichtig in einer Gesellschaft, die zunehmend durch eine „Kultur des Vergessens“ geprägt ist.
Biografisches Lernen mit Stolpersteinen
Eine konkrete Möglichkeit, Erinnerungslernen im Religionsunterricht umzusetzen, bietet das biografische Lernen anhand von Stolpersteinen. Hierbei steht die individuelle Lebensgeschichte der NS-Opfer im Mittelpunkt, die durch die Stolpersteine symbolisch zurück ins öffentliche Bewusstsein gerufen wird. Dabei ist es wichtig, die emotionale Dimension des Lernens zu berücksichtigen und den Schülerinnen und Schülern Raum zu geben, ihre Empfindungen zu reflektieren und auszudrücken.
Apps, wie die Stolpersteine-App für Nordrhein-Westfalen, können dabei eine wertvolle Unterstützung bieten. Sie ermöglicht es, Biografien der Opfer zu erschließen und durch verschiedene mediale Formate wie Text-, Graphic- oder Audio-Storys das Erinnern zu vertiefen. Besonders die Funktion, digitale Kerzen zum Gedenken zu entzünden, schafft Momente des Innehaltens und des Schweigens, die das zentrale Element des Erinnerungslernens bilden.
Stolpersteine als Anstoß zur Reflexion und Selbstkritik
Ein weiterer wichtiger Aspekt des biografischen Lernens ist die Reflexion über die eigene Biografie und die eigene Verantwortung in der heutigen Gesellschaft. Indem Schülerinnen und Schüler mit den Lebensgeschichten der NS-Opfer konfrontiert werden, sollen sie nicht nur informiert, sondern auch zur kritischen Selbstreflexion angeregt werden. Dies kann dazu beitragen, menschenrechtsfördernde Einstellungen zu entwickeln und das Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes der Menschenrechte zu schärfen.
Die Rolle der Religion und des Glaubens im biografischen Lernen
Eine Herausforderung bei der Nutzung der Stolpersteine-App im Religionsunterricht besteht darin, den religiösen Kern des biografischen Lernens nicht zu verfehlen. Es geht nicht nur darum, Fakten zu memorieren, sondern auch die Bedeutung von Religion und Glauben für die Lebensgestaltung der NS-Opfer zu reflektieren. Hierbei kann die Theodizee-Frage, also die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des erlittenen Leids, eine zentrale Rolle spielen.
Fazit: Erinnerungsarbeit für die Zukunft
Die Integration von Stolpersteinen in den Religionsunterricht bietet eine wertvolle Möglichkeit, Erinnerungslernen lebendig und relevant zu gestalten. Durch die biografische Annäherung an die Schicksale der NS-Opfer können Schülerinnen und Schüler eine tiefere Verbindung zur Geschichte entwickeln und gleichzeitig ihre eigene Haltung und Verantwortung in der heutigen Gesellschaft hinterfragen. Die Stolpersteine-App bietet hierbei wertvolle Unterstützung, muss jedoch durch eine gezielte didaktische Aufbereitung ergänzt werden, um den religiösen und ethischen Kern des Erinnerungslernens zu erfassen. So können Stolpersteine dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus lebendig bleibt und zukünftige Generationen für die Bedeutung des Gedenkens sensibilisiert werden.
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