Weit von Wo? – Die Suche nach Identität und Heimat im deutsch-jüdischen Kulturerbe

deutsch-jüdisches Kulturerbe

Die Geschichte der deutschsprachigen Juden ist geprägt von Verlust und kultureller Transformation. Über 60 Länder wurden zu neuen Heimaten für jene, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, und dennoch bleibt ihr Einfluss in diesen Ländern oft unsichtbar im kollektiven Bewusstsein. Dieser Blogbeitrag widmet sich dem deutsch-jüdischen Kulturerbe und der komplexen Frage nach Identität, die in den verschiedenen Stationen von Emigration und Exil immer wieder neu verhandelt werden musste.

Das Erbe der Aufklärung: Deutsch werden, jüdisch bleiben

Die europäische Aufklärung brachte erste zaghafte Schritte in Richtung rechtlicher Gleichstellung der Juden. In Frankreich erhielten Juden 1791 die volle Staatsbürgerschaft, und auch in Preußen wurde 1812 durch das Emanzipationsedikt der bisher prekäre Status der Juden verändert. Diese rechtlichen Fortschritte gingen Hand in Hand mit innerjüdischen Diskussionen über Selbstverständnis und Identität, angestoßen durch Denker wie Moses Mendelssohn. Während sich einige Juden für eine Assimilation an die bürgerliche Gesellschaft entschieden, hielt ein anderer Teil an den traditionellen religiösen Praktiken fest. Doch selbst eine vollständige Anpassung bot keinen Schutz vor den Schrecken, die noch kommen sollten.

Mit der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert suchten viele Juden in den wachsenden Großstädten eine neue Heimat. Berlin, Breslau und Wien wurden zu Zentren jüdischen Lebens, in denen sich eine lebendige kulturelle und intellektuelle Szene entwickelte. Doch auch in dieser Blütezeit war der jüdische Aufstieg nicht ohne Konflikte: Während in den Städten eine stärkere Säkularisierung stattfand, blieb das Leben auf dem Land und in Kleinstädten oft tief in der Tradition verwurzelt.

Das bittere Exil: Zwischen Verlust und Neuanfang

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 begann eine systematische Verfolgung der Juden in Deutschland. Der Exodus setzte ein: Über 300.000 deutschsprachige Juden emigrierten in Länder wie die USA, Großbritannien oder Palästina. Viele von ihnen mussten ihr Leben in Transitländern wie Bolivien oder Schanghai für unbestimmte Zeit ausharren, bevor sie in ihrem endgültigen Exilland ankommen konnten.

In der Fremde angekommen, begannen die Emigranten, sich ein neues Leben aufzubauen. Trotz aller Bemühungen um Integration blieb die Sehnsucht nach der alten Heimat oft bestehen. Für viele war die deutsche Kultur, insbesondere die deutsche Sprache und Literatur, ein Anker in der neuen Welt. Ein Beispiel dafür ist der in Argentinien lebende Schriftsteller Robert Schopflocher, dessen Gedicht „Geständnis“ von der tiefen Verbundenheit mit seiner deutschen Heimat zeugt, obwohl er seit seiner Jugend in Argentinien lebte. Das „Geständnis“ ist auch als Bekenntnis und Selbstverortung zu werten: „Und wo liegt es nun, mein Vaterland?“ 2010 erschien Schopflochers Autobiografie unter dem Titel „Weit von Wo – mein Leben zwischen drei Welten“.

Kulturelles Erbe und Identitätsfragen im Exil

Das kulturelle Erbe, das die Emigranten mitnahmen, war vielfältig und reichte von der Literatur über die Wissenschaft bis hin zur Religion. Die deutsche Sprache und die Werke von Goethe, Schiller und Heine begleiteten viele im Exil und boten eine Verbindung zur verlorenen Heimat. Doch nicht nur die materiellen Güter, auch immaterielle Traditionen und Werte wurden bewahrt und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.

In den USA, wo die meisten Emigranten Zuflucht fanden, wurden die deutsch-jüdischen Einwanderer zu wichtigen Akteuren in Wissenschaft und Kultur. Namen wie Albert Einstein oder Henry Kissinger stehen stellvertretend für viele, die in ihrer neuen Heimat große Erfolge feierten. Doch trotz dieser Erfolge blieb die Frage nach der Identität: Waren sie Amerikaner, Deutsche oder Juden? Diese Frage durchzog das Leben vieler Emigranten und wurde von Generation zu Generation weitergetragen.

Die Transformation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten einige Juden nach Deutschland zurück oder blieben nach ihrer Befreiung in den DP-Lagern. Ihre Koffer blieben oft gepackt, bereit für die nächste Flucht. Doch die Zeit verging, und sie begannen, sich wieder einzurichten. Es entstand eine neue jüdische Gemeinschaft, die allerdings stark von den Erfahrungen der Schoa geprägt war. Diese Gemeinschaft war geprägt von der Erinnerung an die Verfolgung, dem Kampf gegen Antisemitismus und einer starken Solidarität mit Israel.

Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Öffnung des Eisernen Vorhangs erlebte das jüdische Leben in Deutschland eine erneute Transformation. Über 200.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zogen nach Deutschland, was das jüdische Leben im Land stark veränderte. Diese neue Gruppe brachte ihre eigene kulturelle Prägung mit, die sich oft von der der alteingesessenen jüdischen Gemeinschaft unterschied.

Pluralität und die Frage nach der gemeinsamen Identität

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist heute vielfältiger denn je. Liberale, konservative und orthodoxe Juden leben nebeneinander, genauso wie säkulare Juden, die ihre Identität eher über kulturelle als über religiöse Zugehörigkeit definieren. Die Integration der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion war nicht immer einfach, doch sie hat das jüdische Leben in Deutschland bereichert und neue Perspektiven eröffnet.

Die Frage nach der Identität bleibt jedoch weiterhin aktuell: Was bedeutet es, heute in Deutschland jüdisch zu sein? Wie beeinflussen die unterschiedlichen Erfahrungen und Hintergründe die Gemeinschaft? Kann es überhaupt eine gemeinsame Identität geben, oder bleibt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland weiterhin ein Mosaik aus verschiedenen Traditionen und Geschichten?

Ein Blick in die Zukunft

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland steht vor vielen Herausforderungen, aber auch vor großen Chancen. Die Pluralität, die sich entwickelt hat, bietet die Möglichkeit, neue Wege zu gehen und das jüdische Leben in Deutschland weiter zu gestalten. Die Frage nach der Identität wird dabei weiterhin eine zentrale Rolle spielen – und sie wird immer wieder neu verhandelt werden müssen.

Obwohl die Koffer, mit denen die Emigranten einst nach Deutschland kamen, längst ausgepackt sind, bleibt die Frage nach dem „Vaterland“ offen. So wie Robert Schopflocher in seinem Gedicht fragt: „Wo liegt es nun, mein Vaterland?“, so werden auch die kommenden Generationen diese Frage für sich beantworten müssen. Das deutsch-jüdische Kulturerbe, das sich in den vielen Ländern des Exils entwickelt hat, bleibt ein wichtiger Teil dieser Identitätsfindung – in Deutschland und darüber hinaus.

Die Geschichte der deutschsprachigen Juden zeigt, wie komplex die Suche nach Identität ist und wie tief die Wurzeln in der Kultur der alten Heimat verankert sind. In einer globalisierten Welt, in der Migration und kultureller Austausch allgegenwärtig sind, bleibt die Frage nach Heimat und Identität für viele Menschen relevant – und sie wird uns auch in Zukunft begleiten.

Der vollständige Beitrag ist erschienen im Handbuch der Religionen:

Kotowski, Elke-Vera: Weit von Wo? Heimat(-Verlust), Kulturtransfer und Identitätsfragen innerhalb des deutschen Judentums einst und heute. 78. Ergänzungslieferung 2023. In: Michael Klöcker, Udo Tworuschka & Martin Rötting (Hg.): Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum [Handbook of Religions. Churches and other Religious Communities in Germany and German-speaking Countries]. Westarp Science Fachverlag, Hohenwarsleben 2023.

Schlagwörter:
Aufklärung, Diaspora, Emanzipation, Exil, Heimat, Herkunft, Identität, Judentum, Jüdischsein, Kulturerbe, Kulturtransfer, Literatur, Migration, Modernität, Pluralisierung, Teilhabe, Tradition, Transformation, Transit

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